In-Prozess-Analyse beim Einlippenbohren von Nickelbasislegierungen

Werkzeugschwingungen stellen ein großes Problem bei Tiefbohrprozessen mit Einlippenbohrern in Nickelbasislegierungen dar. Sowohl die schlanke Formgebung als auch die Minderung der Biegesteifigkeit durch die V-Spannut wirken sich negativ auf das Stabilitätsverhalten des Tiefbohrwerkzeugs im Bohrprozess aus.

Die schwere Zerspanbarkeit von hochwarmfesten Nickelbasislegierungen führt zusätzlich zu einer starken mechanischen Belastung der Werkzeugschneide. Die Folgen einer solchen dynamischen Beanspruchung sind eine schlechtere Bohrungsqualität und eine geringere Werkzeugstandzeit.

Um zukünftig Prozessinstabilitäten vermeiden zu können, etwa durch den Einsatz von Adaptive Control, ist zunächst die Kenntnis des Schwingungsverhaltens der Einlippenbohrer während des Bohrprozesses erforderlich. Dabei sind fremderregte Schwingungen und auftretende Eigenschwingungen der Einlippenbohrer zu unterscheiden.

Im Folgenden werden daher die Messmethoden der In-Prozess-Schwingungsanalysen beim Einlippenbohren vorgestellt und die Versuchsergebnisse mit den Eigenmodenuntersuchungen der Einlippenbohrer verglichen und diskutiert.

Mit der In-Prozess-Schwingungsanalyse wurde das Ziel verfolgt, die während des Bohrprozesses auftretenden Schwingungen am Einlippenbohrer zu identifizieren. Dabei wurden für die am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF) der TU Braunschweig durchgeführten Untersuchungen zwei unterschiedliche Messaufbauten und -methoden verwendet.

Schwingungstechnische Untersuchung der Kraftsignale

Zunächst erfolgte eine schwingungstechnische Untersuchung auf Basis der während des Bohrprozesses mit einem Vier-Komponenten-Dynamometer vom Typ 9272 der Firma Kistler aufgenommenen Kraftsignale. Mittels FFT-Analyse wurden dazu die im Zeitbereich gemessenen Kraftsignale in den Frequenzbereich überführt.

Um außerdem eine differenzierte In-Prozess-Schwingungsanalyse für den gesamten Bohrprozess durchführen zu können, wurde eine Unterscheidung in die drei Bohrphasen An-, Durch- und Ausbohrvorgang vorgenommen. Auf diese Weise konnten die charakteristischen Schwingungen jeder einzelnen Bohrphase exakt gemessen und zugeordnet werden.

Das Einlippenbohren an einem Bearbeitungszentrum setzt üblicherweise voraus, dass der Bohrer während des Anbohrvorgangs über Pilotbohrungen im Werkstück geführt wird. Um jedoch im Rahmen der durchgeführten Versuche die erforderliche Unterscheidung der Bohrphasen erreichen zu können, wurde der Einlippenbohrer während des Anbohrvorgangs durch eine vor dem Werkstück befindliche Stahlplatte, in die eine Bohrung eingebracht wurde, geführt. Zwischen der Stahlplatte mit der Führungsbohrung und dem Werkstück befand sich ein Zwischenraum von zirka 1 bis 2 mm, der beide Bereiche schwingungstechnisch entkoppelte.

Zur Vermeidung von Reibungskräften und um die Führungsstabilität des Einlippenbohrers während des Bohrungsprozesses nicht unzulässig zu erhöhen, wurde die Führungsbohrung im Durchmesser 0,1 mm größer als der eingesetzte Bohrer ausgeführt. Zusätzlich wurde die Führungsbohrung von beiden Seiten mit einer Fase versehen, so dass es während des Bohrprozesses maximal nur zu einem Linienkontakt und zu keinem Flächenkontakt mit dem Einlippenbohrer kam.

Versuchsaufbau schließt fremderregte Schwingungen aus

Durch die schwingungstechnische Entkopplung war es möglich, die sehr geringen Prozesskräfte und Bohrmomente, die an der Stahlplatte mit der Führungsbohrung angriffen, in das Grundgestell abzuleiten und nicht auf das Dynamometer zu übertragen. Die schwingende Masse des Aufbaus, bestehend aus Werkstück und Dynamometer, war im Vergleich zur Masse des Einlippenbohrers sehr groß. Dadurch konnten fremderregte Schwingungen im Prozess ausgeschlossen werden.

Die Aufnahme des Messsignals erfolgte direkt durch das hinter dem Werkstück befindliche Dynamometer und somit nicht in unmittelbarer Nähe des Wirkpunkts der Zerspanung. Die damit verbundene höhere Systemmasse führte unweigerlich zu einer höheren Systemdämpfung. Das bedeutete, dass die auf diese Weise gemessenen Prozessschwingungen insgesamt etwas niedriger ausfielen.

Um diese Frequenzverschiebung zu vermeiden und um möglichst direkt am Wirkpunkt messen zu können, wurde ein zweiter Versuchsaufbau realisiert. Dabei wurde das Ziel verfolgt, eine nahezu vollständige schwingungstechnische Isolation des Einlippenbohrers während des An-, Durch- und Ausbohrvorgangs von der Umgebung zu erreichen. Die Messung wurde mit Beschleunigungsaufnehmern durchgeführt.

Der obere Teil des Bildes zeigt den Bohrer vor Beginn des Bohrprozesses. Die Bohrerspitze befindet sich direkt vor dem Werkstück, welches in einem hydraulischen Schraubstock auf dem Maschinentisch befestigt wurde. Die damit verbundene hohe Masse verhindert mögliche fremderregte Schwingungen.

Im mittleren Bildteil sind die Pilotbohrungen im Werkstück zu erkennen, die für den Anbohrvorgang beim Einlippenbohren erforderlich sind, wenn keine Führungsbohrungen oder eine Bohrbuchse verwendet werden. Um den Anteil der schwingenden Massen des Werkzeugs und des Werkstücks während des Bohrprozesses möglichst gering zu halten, wurden die Pilotbohrungen in kleine quaderförmigen „Zinnen“ eingebracht, die am Fuß stark verjüngt zuliefen, um die Schwingungsfähigkeit des zu bohrenden Werkstücks zu gewährleisten. Die Beschleunigungsaufnehmer wurden anschließend für den Bohrprozess direkt auf diesen „Zinnen“ appliziert.

Torsionsschwingungen werden axial und radial erfasst

Zur optimalen messtechnischen Erfassung auftretender Torsionsschwingungen erfolgten die Messungen einmal in Vorschubrichtung des Einlippenbohrers (axial) und in einem zweiten Versuch zusätzlich auch senkrecht dazu (radial). Das Piktogramm veranschaulicht die jeweilige Sensorposition zu dem Bohrer während des Prozesses. Durch einen angeschlossenen FFT-Analysator mit Ladungsverstärker und Auswertesoftware wurden die In-Prozess-Schwingungen anschließend analysiert und graphisch im Frequenzbereich dargestellt.

Um bei der Analyse der Prozessschwingungen eine sichere Unterscheidung von fremderregten Schwingungen und Eigenschwingungen des Einlippenbohrers vornehmen zu können, wurden in vorangegangenen Untersuchungen die modalen Parameter von Einlippenbohrern durch experimentelle Modalanalysen mit Hilfe eines Laser-Scanning-Vibrometers bestimmt.

Der Verlauf entspricht einem klassischen Dreimassenschwinger, was durch die Dreiteilung des Einlippenbohrers mit Bohrkopf, Schaft und Spannhülse auch zutrifft. Deutlich sichtbar ist eine Eigenmode bei 880 Hz zu erkennen, bei der es sich um eine Biegeschwingung handelte. Eine weitere Eigenmode lag bei 2000 Hz, dabei handelte es sich um die erste Torsionseigenschwingung. Da auftretende Torsionsschwingungen während des Bohrprozesses zu Prozessinstabilitäten und zu Werkzeugversagen führen können, ist ihre messtechnische Erfassung von großer Bedeutung. Eine dritte ausgeprägte Eigenmode, wieder eine Biegeschwingung, konnte bei 3300 Hz identifiziert werden. Eine vollständige Auflistung der gemessenen Eigenmoden und der Schwingungsart zeigt Tabelle 1.

1. Torsionseigenschwingung im Frequenzbereich von 1800 bis 2000 Hz

Es zeigt beispielhaft die Schwingungsverläufe, die beim Bohren in Vorschubrichtung für die drei Bohrphasen unter Verwendung eines ELB Ø 11,76 mm analysiert wurden. Dabei beträgt das dargestellte Prozessfenster für jede Bohrphase 1 Sekunde. Neben angeregten Biegeschwingungen von 1600 Hz während des Durchbohrvorgangs und etwa 900 Hz während des Ausbohrens wird vor allem deutlich, dass für alle drei Bohrphasen die 1. Torsionseigenschwingung im Frequenzbereich von 1800 bis 2000 Hz angeregt und erkannt werden konnte.

Der Frequenzbereich lag dabei nur knapp unterhalb der ermittelten Werte der experimentellen Modalanalysen der Einlippenbohrer. Dies war, wie bereits vermutet, auf die zusätzlichen schwingenden Massen von Werkstück, Flansch und Dynamometer zurückzuführen.

Lediglich eine Biegeeigenschwingung im Bereich von 3300 Hz beim Ausbohrvorgang

Weitere Eigenfrequenzen wurden für die drei Bohrphasen im Bereich von 2700 bis 3300 Hz angeregt. Diese Biegeschwingungen entsprachen der 8. und 9. Eigenmode und lagen ebenfalls nur geringfügig unterhalb der ermittelten Werte der experimentellen Modalanalysen. Im Bereich von 3300 Hz wurde lediglich beim Ausbohrvorgang eine Biegeeigenschwingung angeregt. Hier sind die Ergebnisse der In-Prozess-Schwingungsanalyse des gesamten Bohrprozesses und für alle drei Bohrphasen tabellarisch dargestellt.

Die aufgenommenen Schwingungsverläufe in Vorschubrichtung nach der FFT-Analyse als Funktion der Energiedichte, ebenfalls unterteilt in den Anbohr-, Durchbohr- und Ausbohrvorgang für ein Prozessfenster von 1 s. Es wurde deutlich, dass ebenfalls eine Anregung der 1. Torsionseigenfrequenz bei 2000 Hz für alle drei Bohrphasen vorlag. Es wurden auch starke Schwingungsamplituden im Bereich von 3500 bis 3800 Hz gemessen, was auf Biegeeigenschwingungen hindeutete, die ebenfalls bei den analytischen und experimentellen Modalanalysen ermittelt wurden.

1. Torsionseigenfrequenz bei allen Bohrvorgängen angeregt

Ein Vergleich mit den Schwingungsverläufen quer zur Vorschubrichtung bestätigte für alle drei Bohrvorgänge die Anregung der 1. Torsionseigenfrequenz. Die Beschleunigungsmessung wurde zwar näher am Wirkpunkt realisiert, so dass es zu geringeren Frequenzverschiebungen kam, jedoch zeigten die Ergebnisse der In-Prozess-Schwingungsanalyse für beide Verfahren (Beschleunigungs- und Kraftmessung) insgesamt eine sehr hohe Übereinstimmung. Dies zeigt, dass beide Verfahren geeignet sind, prozesskritische Schwingungen sicher zu detektieren.

Die im Rahmen der In-Prozess-Schwingungsanalysen verwendeten Versuchsmethodiken zeigten übereinstimmend, dass es beim Einlippenbohren der Nickelbasislegierung Inconel 718 für alle drei Bohrphasen zu einer Anregung der kritischen 1. Torsionseigenschwingung im Bereich von 2000 Hz kam.

Anhand der durchgeführten Untersuchungen konnte außerdem gezeigt werden, dass beide Messmethodiken eine sichere Identifizierung der während des Einlippenbohrprozesses angeregten und zuvor in der experimentellen Modalanalyse ermittelten Eigenmoden gewährleisten. In einem nächsten Schritt kann eine Online-Prozessüberwachung entwickelt werden, die kritische Prozessschwingungen anzeigt, so dass geeignete Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können.

Dr.-Ing. Hans-Werner Hoffmeister ist Lehrbeauftragter für Fertigungstechnik am Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik (IWF) der TU Braunschweig; Dipl.-Wirtsch.-Ing. Jan-Dirk Glaser war bis Ende Mai wissenschaftlicher Mitarbeiter am IWF in der Abteilung Fertigungstechnik und ist jetzt Senior Fachgruppenleiter im Bereich Product Engineering bei der Alstom LHB GmbH, Salzgitter.

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Hans-Werner Hoffmeister und Jan- MM MaschinenMarkt

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