Die weiche Revolution
Ohne Weichmacher gäbe es heute keine Kunststoffe
„Weichmacher funktionieren, indem sie sich zwischen die Fadenmoleküle des Kunststoffs schieben und sie auseinander drängen. Sie wirken wie Öl auf einem Teller Spaghetti, das die Nudeln leichter aneinander vorbeigleiten lässt.“ |
Gartenstühle, Schuhsohlen, Folien aller Art, CDs und DVDs, Verpackungen, Reifen und Schläuche: Kunststoffe und Gummi sind aus unserem modernen Leben nicht mehr wegzudenken. Wer sich über den neuesten Stand der Technik informiert, dessen Kopf dürfte bald summen von den Namen der vielen polymeren Werkstoffe, die angepriesen werden: Polypropylen, Polyurethane, Nitrilkautschuk, Polyoxymethylen, Makrolon® – und wie sie alle heißen. Aber: längst nicht bei allen interessanten Produkten sind die tollen Leistungen der angepriesenen Kunststoffe allein den Polymeren zu verdanken. Wie bei einem Schüler, der mit guten Noten glänzt, kommen Bestnoten auch in der Kunststoffbranche oft nur mit einer guten Nachhilfe zustande. Bei Kunststoffen besteht diese nicht selten aus dem profanen Einmischen spezieller Zusatzstoffe, die polymere Werkstoffe schlagzäh, biegsam, witterungsbeständig und weich machen: Häufig machen erst Additive die Kunststoffe zu dem, was sie sind.
Kaum ein Polymer kommt ohne Additive aus
Eine ganz besondere Additiv-Klasse sind die Weichmacher: Ohne sie hätte sich zum Beispiel das spröde und brüchige PVC kaum seinen riesigen Markt erobern können; ohne Weichmacher wären manche Spritzgießwerkstoffe für das Spritzgießen völlig ungeeignet, ohne Weichmacher könnte man manche Gummimischungen nicht herstellen – Weichmacher machen Kunststoffprodukte nicht nur dehnbar, plastisch und elastisch und bei tiefen Temperaturen flexibel, sondern erlauben vielfach erst die wirtschaftliche Verarbeitung der polymeren Werkstoffe. Man kann sogar noch weiter gehen: Sehr wahrscheinlich wäre die Kunststoffindustrie ohne die Erfindung der Weichmacher kaum über den Stand von anno Tobak hinausgekommen, denn die ersten Kunststoffe und modifizierten Naturpolymere wie Nitrocellulose oder Galalith waren hart und spröde und dadurch im Alltag kaum zu gebrauchen – natürlich fördert es nicht gerade die Vermarktung eines neuen Werkstoffs, wenn man zum Beispiel auf seinen Kamm Acht geben muss, als wäre er aus Meißner Porzellan. Das änderte sich erst durch Weichmacher. Der erste, der in echten Kunststoffen zum Einsatz kam, war Kampfer – nach Erkältungsbalsam riechende farblose Kriställchen aus dem Holz des chinesischen Lorbeergewächses Cinnamomum camphora, die ein Tüftler namens John Wesley Hyatt und sein Bruder im Jahre 1869 in Nitrocellulose mischten, um dieses Material gefügiger zu machen. Dabei war Hyatt nicht der erste, der versuchte, den spröden Ur-Werkstoff der heraufdämmernden Kunststoffindustrie mit Additiven handhabbarer zu machen: Ein nicht weniger ehrgeiziger Erfinder namens Alexander Parkes versuchte es vor ihm zum Beispiel mit Holzteer und Pflanzenölen. Er hatte aber Probleme mit der Rezeptur: sein „Parkesin“ ließ sich zwar halbwegs vernünftig verarbeiten, daraus gefertigte Damenohrringe, Kämme und Armbänder verzogen sich aber innerhalb weniger Wochen derart, dass sie nicht mehr zu gebrauchen waren – vermutlich, weil Parkes Öle zu schnell verdunsteten. Andere Tüftler versuchten es mit Bananen- und sogar Fuselöl, das bei der Whiskydestillation anfiel – ebenfalls nicht mit überliefertem Erfolg.
Weich wie Kaugummi und hart wie Horn
Hyatts neuer Kunststoff war den Anforderungen des neu geborenen Kunststoff-Business besser gewappnet: Abhängig von der Menge des Kampfers, die er in Kollodium – aufgelöste Schießbaumwolle, chemisch: Nitrocellulose – mischte, konnte er einen Kunststoff erzeugen, der transparent, aber einfärbbar, hart wie Horn oder weich wie Rohgummi war: Zelluloid. Eine der ersten Anwendungen dieses gefügigen Werkstoffs, der sich dank Hyatts duftender Rezeptur bei moderaten Temperaturen von 80 bis 90 Grad Celsius in allerlei Formen bringen ließ, waren übrigens künstliche Gebisse, die ihren Trägern zwar wegen des durchdringenden Kampfergeruchs nicht immer Freude bereiteten, jedoch – auch aufgrund ihrer Einfärbbarkeit – schon ein deutlicher Fortschritt gegenüber den bislang verwendeten Hartgummiplatten waren. Später machte sich das Material einen Namen als ideales Trägermaterial für fotografische Filme.
Weichmacher an der Wiege des modernen Kunststoffs
Zwar musste Hyatts Zelluloid noch eine Weile mit Problemen kämpfen, die mit seiner engen Verwandschaft zur Schießbaumwolle zu tun hatten. So kam es bei der Kollision von Billardkugeln auf Nitrocellulose-Basis zuweilen zu kleinen Explosionen, die nach Augenzeugenberichten zufällig am Pooltisch stehende Cowboys zu ihren Colts greifen ließ; eine Zeitschrift berichtete gar von einer Dame, die um einen erbaulichen Abend gebracht wurde, als die Zelluloidknöpfe ihres Abendkleids an einem Kamin Feuer fingen. Einmal flog sogar eine komplette Zelluloidfabrik in die Luft. Aber all dies änderte nichts an der Tatsache, dass Hyatt den ersten thermoplastischen Kunststoff erfunden hatte. Und dass an der Wiege der modernen Kunststoffe ein Weichmacher stand. Auch nach Hyatt blieb die Geschichte der Kunststoffe eng mit der ihrer Weichmacher verzahnt. Als man zum Beispiel im Werk Dormagen der neu gegründeten Bayer AG einmal über die Verwendung einiger hundert Tonnen eines spröden Kunststoffs namens Cellit® nachdachte – eines Cellulose-Triacetats, das unter anderem zur Herstellung von Flugzeugscheiben verwendet wurde und im Jahr 1946 ohne rechte Verwendung auf dem Werksgelände herumlag – kam ein findiger Chemiker auf die Idee, das Material mit einem Weichmacher zu versehen. Schon war ein neuer Spritzgießwerkstoff geboren. Im Jahr 1952 bekam das neue, weichgemachte Cellit den Namen „Cellidor“ und wurde zum Inbegriff der Vielseitigkeit: In den Fünfzigern fertigte man daraus Radiogehäuse, Armaturenbretter, Kämme, Spangen, Schraubenziehergriffe, Brillengestelle und so weiter und so weiter… Übrigens verfeinerte auch die Gummiindustrie ihre Produkte mit Weichmachern weiter: Zwar wird der Gummi-Rohstoff Kautschuk durch langandauerndes Kneten mit der Zeit weich wie ein Kaugummi, allerdings nur, weil durch diese Behandlung die langen Kettenmoleküle dieses Polymers zerbrechen – womit man leider andere wichtige Eigenschaften dieses wertvollen Materials verschenkt. Darum begannen die Gummichemiker schon früh, ihren schwarzen Rezepturen allerlei flüssige Komponenten beizumischen, um sie weich zu machen – Steinkohlenteer, Pech, Öle und Terpene (wie Kampfer!), Paraffin und sogar Vaseline. Das machte die Gummi-Rohmischung auch ohne allzu heftiges Zerkleinern der Kautschukmoleküle klebrig genug, um sie trotz der vielen festen Zusätze wie Ruß bequem im Mischer verkneten zu können. Daran sieht man, wie wichtig die so unscheinbaren Weichmacher für die Verarbeitung der Polymere sind – sie können einem an sich eher unscheinbaren polymeren Werkstoff ganz neue Eigenschaften mit auf den Weg geben. Dieses bemerkenswerte Potenzial zeigt sich paradoxerweise auch daran, dass selbst renommierte Chemiehistoriker heute Schwierigkeiten haben, auf dem Gebiet der Weichmachertechnik an Informationen zu kommen: die „richtigen“ Weichmacher sind derart wichtig für die Performance des Kunststoffs, dass das Wissen darüber über die Jahrzehnte in den Tresoren der Polymeranwender verschwand. So wurden die Weichmacher mit der Zeit zu eher anonymen Leistungsträgern.
Moderne Nachfahren des Kampfers
Fest steht aber: Hyatts Kampfer blieb nicht lange allein. Zwar werden noch heute zwei Drittel des weltweit produzierten Kampfers zur Zelluloidproduktion verwendet; bereits ein Chemielexikon aus dem Jahre 1931 verweist im Kapitel „Weichmacher“ neben diesem Terpen aber auch auf Phthalsäure- und Glycerinester sowie organische Phosphate wie etwa Trikresylphosphat, die Kunststoffe nicht nur weich machen, sondern auch ihre „Unverbrennlichkeit“ fördern – tatsächlich konnte ein Nachfolger des Zelluloids, Celluloseacetat, mit einem wesentlichen Nachteil des Ur-Kunststoffs, seiner Brenn-barkeit, aufräumen, wenn man ihn mit einer Mischung aus Kampfer und Phosphaten elastifizierte. Heute kennt man in der Technik ca. 400 Substanzen – „Renner“ und Exoten – die in irgendeiner Form als Weichmacher verwendet werden. Von kommerzieller Bedeutung sind davon ungefähr hundert. Mitte der 90er Jahre wurden weltweit mehr als 4,2 Millionen Tonnen Weichmacher eingesetzt. Rund 90% aller Weichmacher werden heute in PVC verarbeitet – dieser von Haus aus beinahe glasspröde Kunststoff wäre ohne Weichmacherzusatz von bis zu 55% für die meisten Anwendungen schlichtweg unbrauchbar; selbst Hart-PVC kann noch bis zu 12 Prozent Weichmacher enthalten, die die Verarbeitbarkeit dieses Werkstoffs verbessern. Auch in anderen Polymeren werden Weichmacher je nach Anwendung in den unterschiedlichsten Mengenanteilen verwendet: Papier (!) enthält rund fünf Prozent, thermoplastische Werkstoffe bis zu 10, Elastomere manchmal bis zu 60 Prozent; es gibt sogar Kunststoffe, die zu 95% aus Weichmacher bestehen! Eigentlich funktionieren Weichmacher immer nach dem gleichen Prinzip – und das erklärt sich fast von selbst, wenn man versteht, wie Kunststoffe in ihrem Innern aufgebaut sind. Denn „Plastik“ besteht immer aus sehr langen Kettenmolekülen, die unter einem extrem starken Mikroskop wie lange Fäden aussehen würden. Ein Kunststoff, bei dem diese Fäden locker miteinander verknäult sind, ist weich. Bei vielen Kunststoffen haben diese Fäden allerdings die Eigenschaft, sich aneinander zu lagern wie Spaghetti in der Tüte. Tatsächlich: Wer seine Spaghetti etwas unachtsam in den Topf gibt und beim Kochen nicht umrührt, der findet im Nudelsieb anschließend neben locker verknäulten Nudeln auch Stücke, in denen die langen Nudeln noch fein säuberlich aneinander kleben wie in der Packung. Diese Klumpen wirken etwas härter als der Rest, obwohl die Nudeln auch darin weichgekocht sind. Bei Kunststoff-Fadenmolekülen ist es ähnlich: Eine starre Anordnung, die an den streng regelmäßigen Aufbau von Kristallen erinnert, lässt den Kunststoff nach außen hin steif wirken. Im Topf wie im Reagenzglas heißt das: bewegliche Knäuel: weich, starre Anordnung: hart.
Ein wenig Chemie
Genau hier greifen Weichmacher ein. Denn hierbei handelt es sich in den meisten Fällen – egal, ob bei Kampfer oder Mineralöl – um Moleküle, die sehr viel kleiner sind als die Kettenmoleküle der polymeren Werkstoffe und bei der Verarbeitung des Kunststoffs in deren „Spaghettistruktur“ eingeknetet werden. Dabei schieben sie sich zwischen die aneinanderliegenden Kunststoff-Fadenmoleküle, bringen sie auf Abstand – und wirken zugleich wie Öl auf dem Spaghettiteller, das die Nudeln leicht aneinander vorbeigleiten lässt. So entsteht schnell eine lockere, bewegliche Struktur – der Kunststoff wird weich, und zwar um so mehr, je mehr Weichmacher man in den Werkstoff einbringt. Dieses einfache Bild erklärt schon eine Menge Dinge, die den Alltag der Kunststoffchemiker ausmachen. Denn ein Großteil des Know-hows der Werkstoff-Entwickler besteht darin, die zum verwendeten Kunststoff ideal passenden Substanzen zu finden: In wasserabstoßende Moleküle wie zum Beispiel des Naturkautschuks kann man keine wasserfreundlichen Substanzen einkneten – die Stoffe würden sich trennen wie Wasser und Öl. Außerdem muss man die Weichmacher so aussuchen, dass sie auch in ihrer Molekülgestalt optimal zu den Kunststoffkettenmolekülen passen, die sich längst nicht gleichen wie eine Spaghetti der anderen – manche Polymere erinnern in der Tat an glatte Nudeln, andere haben eine eher zickzackförmige Gestalt oder Ähnlichkeit mit einer Kette aus dicken Neonröhren, die über dünne Leitungen miteinander verbunden sind; wieder andere gleichen Colliers aus dicken Perlen. Hyatts Zelluloid war zum Beispiel nur deshalb ein so großer Erfolg, weil die Kampfermoleküle so hervorragend zwischen die perlenkettenartigen Moleküle der Schießbaumwolle passten. Nicht jeder Weichmacher ist also für jedes Polymer geeignet. Hinzu kommt aber noch, dass jeder seine „Gastgebermoleküle“ ein wenig anders beeinflusst: der eine führt zu einer größeren Flexibilität bei tieferen Temperaturen, der andere ist speziell darauf zugeschnitten, Kunststoffe auch bei hohen Plusgraden nicht zerfließen zu lassen; wieder andere machen nicht nur weich, sondern funktionieren auch noch wie eingebaute Feuerlöscher, die Flammen schon im Keim ersticken, indem sie sich unter Hitzeeinwirkung zersetzen und dabei flammhemmende Stoffe abgeben.
Viele Lösungen für ein Problem
So konnte der Weichmacher-Bestellzettel der Kunststoff-Industrie im Laufe der Jahrzehnte zu einem stattlichen chemischen Zoo anwachsen, der jedoch von einer Reihe „großer Familien“ dominiert wird. Die so genannten Phthalsäureester (Phthalate) verrichten ihren Job in PVC-Kabeln und -Folien ,Lacken sowie Zellulose-Klebstoffen. Dicarbonsäureester machen weich-PVC kälteelastisch, Phosphphorsäureester kommen zum Beispiel als Flammschutzmittel, aber auch als Hydraulikflüssigkeit (!) zum Einsatz. Fettsäureester – im Prinzip entfernt mit Margarine verwandt – elastifizieren Kautschuk und Vinylharz-Fußbodenbeläge. Für manche Anwendungen greifen Kunststofftechniker auch zu Zitronen- und Weinsäureestern. Natürlich soll hier nicht verschwiegen werden, dass Weichmacher trotz ihrer segensreichen Auswirkungen auf die Kunststofftechnik nicht nur Freunde haben. In jüngster Zeit sind bekanntlich die Phthalate in den Verdacht geraten, gesundheitsschädlich zu wirken; die Vorwürfe sind noch nicht schlüssig belegt, trotzdem wird dem Verdacht derzeit natürlich nachgegangen. Zum Glück bedeutet die Diskussion – egal, wie sie ausgeht – nicht, dass nun gleich alle Weichmacher zu verdammen sind: Weichmacher ist nicht Weichmacher, wie längst nicht nur das Naturprodukt Kampfer zeigt.
Es gibt eine Alternative
Denn tatsächlich gibt es auch für die Phthalate inzwischen sehr brauchbare Alternativen – in Form einer Substanzfamilie, deren Mitglieder unter dem Namen „Alkylsulfonate“ in den Chemiebüchern stehen und von Bayer unter der Handelsbezeichnung „Mesamoll®“ verkauft werden. Alkylsulfonate sind schon länger als unbedenklich anerkannt und haben in vielen Ländern sogar eine lebensmittelrechtliche Zulassung. Mesamoll ersetzt die vieldiskutierten Phthalate mit Erfolg bereits in Puppen und Spielfiguren, in Handschuhen und Folien für Wasserbetten und kommt in Dichtmassen für den Bau ebenso zum Einsatz wie in Schwimmreifen oder „Gummistiefeln“. Dabei helfen dem Material noch eine Reihe weiterer Vorteile wie zum Beispiel die Tatsache, dass es von Wind, Wetter und Wasser anders als viele andere Weichmacher so gut wie nicht angegriffen wird und zu Produkten führt, die gut bedruckt werden können – nicht nur für das bunte Kinderplanschbecken aus PVC-Folie eine wichtige Voraussetzung.
„PVC ist „von Haus aus“ ein fast glasartig spröder Kunststoff. Ohne Weichmacher wäre dieser Werkstoff nahezu unbrauchbar. Mesamoll® dienst der Elastifizierung, ist verseifungsbeständig und wetterfest.“ „(2002-0505-4.jpg).“ |
Dass diese Phthalat-Alternative ausgerechnet bei Bayer entwickelt wurde, ist kein Zufall: Der Geschäftsbereich Spezialprodukte dieses Unternehmens, der mit Weichmachern im Jahr 2000 rund 28% seines Umsatzes von rund 210 Millionen Euro machte, sieht sich als „Spezialist für Spezialitäten“ und hat sich auf die Fahne geschrieben, sein Geld nicht mit „den üblichen“ Massenprodukten zu verdienen, sondern mit hochwertigen, maßgeschneiderten Spezialadditiven, in deren Entwicklung zwar ein gerütteltes Maß an Know-how gesteckt werden muss, die dafür aber auch da weiterhelfen, wo „simple“ Weichmacher von der Stange versagen. Bei ihrer Arbeit hilft den Bayer-Additiv-Experten, dass sie bei allen ihren Entwicklungen immer in engem Kontakt zu den Polymer-Fachleuten desselben Unternehmens stehen; zum Teil teilen sie sich sogar die Untersuchungsanlagen, mit denen sie ihre Produkte auf ihre Eignung testen.
„Spezialist für Spezialitäten“
Von diesen Synergieeffekten profitieren immer mehr Kunststoff-Verarbeiter. So haben die Spezialitäten-Spezialisten des Leverkusener Unternehmens nicht nur Alternativen zur PVC-Herstellung aufgezeigt, sondern auch eine Lösung für das Problem der wandernden Weichmachermoleküle entwickelt. Denn die kleinen Weichmacherteilchen sind im Kunststoff für gewöhnlich erstaunlich mobil: Sie bewegen sich darin unter bestimmten Bedingungen wie Honig in einem Schwamm. Manches Weichmacher-Molekül gelangt bei seiner Reise durch den Werkstoff irgendwann an die Oberfläche und trägt dort zur Bildung eines unansehnlichen Schmierfilms bei: Nicht nur Hausfrauen kennen das. Spezielle Weichmacher, die von den Leverkusener Chemikern darauf gedrillt wurden, im Polymer an ihrem Platz zu bleiben – etwa indem sie selbst aus langen Molekülketten bestehen –, können Plastik und Gummi vor schmierigen und stumpfen Oberflächen bewahren. Und für elektronische Leiterplatten, die ebenfalls Weichmacher enthalten müssen, damit der spröde Kunststoff, aus dem sie bestehen, beim Stanzen, Anbohren und Löten nicht zerplatzt, entwickelten die Bayer-Wissenschaftler maßgeschneiderte halogenfreie Weichmacher. So viel Entwicklungsaufwand, in der Weichmacher-Branche, die größtenteils mit eher traditionellen Produkten handelt, eher ungewöhnlich, zahlt sich natürlich aus: Das Mesamoll-Geschäft der Bayer-Additiv-Spezialisten ist in den letzten zwei Jahren zum Beispiel um rund 15 Prozent gewachsen, obwohl der Kunststoffmarkt im selben Zeitraum insgesamt nur um etwa vier Prozent zulegen konnte! Das zeigt, dass die lange Geschichte der Weichmacher noch immer nicht zu Ende geschrieben ist: Neue Kunststoffe und neue Anforderungen an die daraus gefertigten Produkte erfordern eben ständig neue Lösungen, die letztlich nur mit der geballten Brainpower von Kunststoff-Experten erarbeitet werden können. Dass diese Hightech-Produkte vom Rhein trotz des hohen Entwicklungsaufwands auch noch zu vernünftigen Preisen verkauft werden können, ist übrigens eine direkte Folge des riesigen Bayer-„Chemikalien-Gemischtwarenladens“ auf dem Leverkusener Werksgelände: Die meisten Vorprodukte, die die Additiv-Chemiker zur Herstellung ihrer Produkte brauchen, können sie aus Bayer-eigenen Leitungen abzapfen.
Auch die Natur kennt Weichmacher
Aber zurück zu den Weichmachern. Die elastifizierenden Chemikalien aus den Kolben und Tiegeln der chemischen Industrie sind natürlich nicht die einzigen, die die Welt kennt. Da auch die Natur zum Teil aus polymeren Werkstoffen aufgebaut ist, benötigt sie natürlich auch Stoffe, die diese Polymere flexibel halten: Proteine, das Erbmolekül DNS, Stärke und Holz und im Prinzip sogar Steine (!) bestehen im Prinzip aus langen und zum Teil sogar räumlich vernetzten Kettenmolekülen. In den meisten Fällen greift die Natur zu Wasser als Weichmacher. So wären Naturfasern wie Seide, Wolle oder Baumwolle ohne gewisse Wasseranteile brüchig; auch Muskelfasern enthalten mehr Wasser, als aus biochemischen Gründen nötig wäre: der Überschuss hält die Muskelproteine geschmeidig. Im Alter geht der Wassergehalt übrigens zurück; der Weichmacherjob wird dann zum Teil durch Fette übernommen und mehr oder weniger gut erledigt.
„Nicht nur die Kunststoffindustrie setzt auf Weichmacher – auch Mutter Natur kommt nicht ohne aus. Muskelfasern – die letztlich auch, ähnlich wie Kunststoffe, aus Kettenmolekülen aufgebaut sind – enthalten wie moderne polymere Werkstoffe Weichmacher: Wasser und Fettmoleküle.“ „(2002-0505-2.jpg)“ |
Selbst Quarz, ein außerordentlich hartes Material, wird durch Wasser erweicht: So enthält harter Naturquarz nur 0,01% Wasser, künstlicher Quarz aus technischen Gründen hingegen rund zehn Mal mehr. Dadurch kann man das künstliche Material bei für Minerale lauschigen 400 Grad Celsius fast wie Gips verformen, während „trockener“ Naturquarz bis zu einer Temperatur von 1000 Grad buchstäblich steinhart bleibt. Dieses Beispiel zeigt übrigens auch, dass der Einsatz von Weichmachern in der Technik nicht unbedingt auf Kunststoffe beschränkt ist. Wer zum Beispiel einmal tiefer über den geschwungenen Griff seines Regenschirms nachgedacht hat, der ahnt, dass es auch hier irgendeine Methode geben muss, um Holz plastisch zu machen. Tatsächlich kann man zum Weichmachen des Holzes heißen Wasserdampf verwenden; flüssiges Ammoniak, kombiniert mit organischen Lösemitteln wie Polyethylengylcol, Dimethylsulfoxid oder Tetrahydrofuran verrichtet den Job aber noch besser – mit dieser Rezeptur kann man sogar Knoten in Spazierstöcke machen. Nach dem Verdampfen des Ammoniaks verhält sich das Holz dann wieder so, als wäre es frisch vom Busch geschnitten.
Wege aus dem Kunststoff-Mittelalter
Hyatts Erfindung hat uns also vor über einem Jahrhundert die Kunststoffe beschert. Da wundert es natürlich nicht, dass sich inzwischen auch Angehörige eines Berufsstands, der sich sonst eher mit der Erhaltung antiker Farben beschäftigt, den Kopf über Weichmacherprobleme zerbrechen müssen: So kämpfen Restauratoren zum Beispiel um die Erhaltung der Weltraumanzüge, die die Apollo-Astronauten auf den Mond und unbeschadet zurück gebracht haben. Sie enthielten PVC-Schläuche, die mit einem Phthalat elastifiziert wurden; nach über 30 Jahren im Museum ist diese Flüssigkeit jedoch – Stichwort „wandernde Weichmacher“ – aus dem Polymer herausdiffundiert und hat die Versorgungsschläuche brüchig werden lassen. Damit entpuppen sich die ehemaligen Hightech-Anzüge als weniger haltbar als jahrhundertealte Ritter-Harnische! So gesehen befinden wir uns auch heute noch immer in einer Art-Kunststoff-Mittelalter. Es wird vielleicht Zeit, dass sich das ändert – mit Hilfe neuer, ausgefeilter Weichmacher, wie sie zum Beispiel bei Bayer entwickelt werden.
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