HygroShape: Holzmöbel, die sich selbst formen

Etappen des Selbstformungsprozesses: Durch Lufttrocknen formt sich die flache, kompakte Konfiguration in die stabile, gekrümmte Geometrie eines Stuhls.
Bild: Robert Faulkner / Universität Stuttgart / ICD

Elegant geschwungene Sitzmöbel, die in einem flachen Karton geliefert werden und sich nach dem Auspacken über Nacht ganz von selbst in Form bringen – wer je über der Bauanleitung eines Möbelstücks gerätselt hat, mag dies als Traum empfinden. Wirklichkeit wird er durch HygroShape, dem ersten Konzept für Möbel, das auf die Formkräfte der Natur setzt und diese mit den Möglichkeiten der Digitalisierung verbindet. Entwickelt wurde das Konzept am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) der Universität Stuttgart unter der Leitung von Prof. Achim Menges.

Prototyp einer selbstgeformten Chaiselongue.
Bild: Robert Faulkner / Universität Stuttgart / ICD

Mit HygroShape machen sich die Forschenden Dr. Dylan Wood und Laura Kiesewetter am ICD eine intrinsische Eigenschaft von Holz zu Nutze, die jeder Tischler oder Schreiner kennt: Die Zellwände dehnen sich in nassem Zustand aus und ziehen sich beim Trocknen zusammen, wobei die Steifigkeit genau mit der Änderung des Feuchtigkeitsgehalts korreliert. Trocknet Holz unkontrolliert, kommt es aufgrund dieses hygroskopischen Schwindens zu unerwünschten Verformungen, das Material „verzieht sich“. Versteht man die Kräfte jedoch, lassen sie sich für gezielte Formänderungen nutzen, die ausschließlich durch das Material getrieben sind – und das in aller Stille, ohne menschliches Zutun, Werkzeug oder Montageanleitung. Einmal geformt, verriegeln sich die Teile mechanisch und schaffen so Stabilität.

Nadelbäume stehen Pate

Das biologische Prinzip für die passive Selbstformung haben sich die Stuttgarter Forschenden unter anderem bei den Zapfen von Nadelbäumen abgeschaut. Deren Schuppen bestehen aus anisotropen Faserverbundwerkstoffen, die eine Doppelschicht bilden. Solange der Zapfen lebt, wird in dieser Doppelschicht ein hoher Wassergehalt beibehalten. Fällt der Zapfen vom Baum, trocknen die Schuppen, biegen sich langsam auf und geben die Samen frei. Die physikalisch-mechanischen Eigenschaften solcher Verbundmaterialien digitalisieren die Forschenden im HygroShape-Konzept mithilfe fein abgestimmter rechnergestützter Designmethoden und berechnen eine spezifische Materialsyntax, um das Material auf die geplante Verformungssequenz einzustellen.

Auf der Basis dieser spezifischen Syntax werden flache, mehrschichtige Holzbauteile hergestellt, die eine ausgefeilte innere Zusammensetzung sowie einen definierten Feuchtigkeitsgehalt aufweisen. Mithilfe eines computergestützten Designtools werden die Bretter dann in maßgeschneiderten Anordnungen arrangiert, die die anschließende Formung steuern und koordinieren. Durch diese physische Kodierung wird jedes Stück in flachem Zustand so programmiert, dass eine definierte gekrümmte Geometrie entsteht, wenn die Feuchtigkeit reduziert wird. Schließlich werden die Teile versiegelt zum Endverbraucher transportiert und dort einer Umgebung ausgesetzt, die deutlich trockener ist als die Produktionsumgebung, was die Formungssequenz aktiviert.

Das digitale Design erlaubt es, natürliche Materialien mit höherer Variabilität zu nutzen und öffnet gleichzeitig die Tür zu einer neuen Formsprache. Seit einigen Jahren werden Möbel nämlich aus Kostengründen häufig in kompakten, flachen Paketen transportiert und erst vor Ort zusammengebaut, was das Möbeldesign überwiegend auf gerade oder eckige Formen einengt. Das einzigartige Materialverhalten eines HygroShape-Teils dagegen bringt elegante Kurven und schlanke Flächen hervor, standardmäßige Winkelverbindungen oder mechanische Beschläge entfallen.

„Die Selbstformung führt ihrer Natur nach zu einem ehrlichen und klaren Design“, sagen die Forschenden. „Das Ergebnis ist eine stabile und doch nachgiebige Struktur, die dynamisch mit dem Körper interagiert.“
Noch handelt es sich bei den mit der HygroShape-Technologie gefertigten Möbeln – ein Loungesessel und eine Chaiselongue – um Einzelstücke. Doch mit ihrem Spinn-off Unternehmen hylo-tech (www.hylo.tech) möchten die Forschenden die Markttauglichkeit der Technologie anhand einer limitierten Serie testen. Unterstützt wurde das Projekt mit einer internen Förderung aus dem Wissens- und Technologiefonds der Universität Stuttgart sowie durch die Firmen Henkel AG, Schönweiler GmbH und Gettylab.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Achim Menges, Dr. Dylan Wood, Laura Kiesewetter, Universität Stuttgart, Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung, Tel: +49 (0) 711 685 827 86, E-Mail: mail@icd.uni-stuttgart.de

Weitere Informationen:

http://www.icd.uni-stuttgart.de/de/projekte/hygroshape/ Projekt-Website

Media Contact

Andrea Mayer-Grenu Abteilung Hochschulkommunikation
Universität Stuttgart

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Materialwissenschaften

Die Materialwissenschaft bezeichnet eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung – d. h. der Entwicklung, der Herstellung und Verarbeitung – von Materialien und Werkstoffen beschäftigt. Biologische oder medizinische Facetten gewinnen in der modernen Ausrichtung zunehmend an Gewicht.

Der innovations report bietet Ihnen hierzu interessante Artikel über die Materialentwicklung und deren Anwendungen, sowie über die Struktur und Eigenschaften neuer Werkstoffe.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Lange angestrebte Messung des exotischen Betazerfalls in Thallium

… hilft bei Zeitskalenbestimmung der Sonnenentstehung. Wie lange hat eigentlich die Bildung unserer Sonne in ihrer stellaren Kinderstube gedauert? Eine internationale Kollaboration von Wissenschaftler*innen ist einer Antwort nun nähergekommen. Ihnen…

Soft Robotics: Keramik mit Feingefühl

Roboter, die Berührungen spüren und Temperaturunterschiede wahrnehmen? Ein unerwartetes Material macht das möglich. Im Empa-Labor für Hochleistungskeramik entwickeln Forschende weiche und intelligente Sensormaterialien auf der Basis von Keramik-Partikeln. Beim Wort…

Klimawandel bedroht wichtige Planktongruppen im Meer

Erwärmung und Versauerung der Ozeane stören die marinen Ökosysteme. Planktische Foraminiferen sind winzige Meeresorganismen und von zentraler Bedeutung für den Kohlenstoffkreislauf der Ozeane. Eine aktuelle Studie des Forschungszentrums CEREGE in…