Skalenübergreifende Anpassungen

Mikroskopische Aufnahme der Innenseite des Facettenauges des Pfeilschwanzkrebses, die eine Reihe von Linsen zeigt, die Licht sammeln. Die Linsen erscheinen je nach Betrachtungswinkel dunkel oder hell.
© Oliver Spaeker

Forschende lernen, wie der Pfeilschwanzkrebs durch seine Kutikula-Linsen sieht.

Ein internationales Forschungsteam hat erklärt, wie der Pfeilschwanzkrebs mit Hilfe der Kutikula – einem Material, das normalerweise das Exoskelett eines Tieres bildet – rudimentäre, aber hocheffiziente Facettenaugen baut.

Die primitiven Facettenaugen des Pfeilschwanzkrebses gehören zu den größten, die in der Natur vorkommen. Im Gegensatz zu vielen Insekten und Spinnen, die ihre Augen aus glasartigen Proteinen aufbauen, verwendet der Pfeilschwanzkrebs die Kutikula, das gleiche Material, aus dem auch seine Haut und Beine bestehen. Ein internationales Team unter der Leitung von Prof. Yael Politi vom B CUBE – Center for Molecular Bioengineering der TU Dresden hat nun gezeigt, dass eine Vielzahl verschiedener Veränderungen in der Gesamtarchitektur sowie in der lokalen Zusammensetzung des Materials es dem Tier ermöglichen, die Kutikula zum Bau optischer Elemente zu verwenden. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Advanced Science veröffentlicht.

Facettenaugen sind bei Insekten und Krustentieren weit verbreitet. Sie bestehen aus einer Reihe von Linsen, die Licht aus verschiedenen Richtungen sammeln und es genau an einer Stelle auf die Rezeptorzellen fokussieren. „Das Facettenauge ist die Antwort der Natur auf die Notwendigkeit, ein breites Sichtfeld in einem ansonsten kleinen Auge zu erfassen. Es ist eine ähnliche Herausforderung wie die der modernen Kameradesigner, die die Kameras immer weiter miniaturisieren und dabei ein breites Sichtfeld von über 90 Grad beibehalten wollen“, erklärt Prof. Yael Politi, Forschungsgruppenleiterin am B CUBE – Center for Molecular Bioengineering der TU Dresden.

Die Facettenaugen des Pfeilschwanzkrebses sind im Vergleich zu anderen Gliederfüßern wie Libellen oder Garnelen primitiv. Anstelle der typischen glasartigen Proteine baut der Pfeilschwanzkrebs die Linse aus dem Material, aus dem sein Exoskelett besteht – der Kutikula. „Die Kutikula von Arthropoden ist ein Verbundmaterial, das aus Proteinen und einem kristallinen Polymer namens Chitin besteht. Es ist der charakteristische Bestandteil von Insekten, Spinnen und anderen Gliederfüßern, die daraus ihre Haut und Beine, das so genannte Exoskelett, bauen“, sagt Prof. Politi.

Die Kutikula ist für ihre Vielseitigkeit und ihre hervorragenden mechanischen Eigenschaften bekannt. Allerdings gibt es nicht die eine Kutikula. Verschiedene Gliederfüßer passen den Verbundstoff an ihre Bedürfnisse an. Im Laufe der Evolution hat sich die Struktur des Materials an seine Funktion angepasst und wurde je nach den Bedürfnissen der einzelnen Tiere steifer oder flexibler. „Dennoch ist die Verwendung von Kutikula für den Bau von Linsen ungewöhnlich, und das Ausmaß, in dem der Pfeilschwanzkrebs sie für seine Augen verwendet, ist geradezu bemerkenswert“, sagt Prof. Politi.

„Wir wollten genau verstehen, wie das Tier die Struktur und Zusammensetzung der Kutikula verändert. Das ist ein Material, das vor allem für seine hervorragenden mechanischen Eigenschaften bekannt ist. Wie könnte das Tier es nutzen, um eine Reihe von Linsen mit variablen optischen Eigenschaften zu bauen?“, fügt Prof. Politi hinzu.

Anpassung der Kutikula an ein optisches Element

Das Team arbeitete mit Forschenden aus Potsdam und Brünn zusammen und nutzte große europäische Synchrotronstrahlungsanlagen, um die Linsen des Pfeilschwanzkrebses zu analysieren. Die Forscher:innen untersuchten sowohl die globale Organisation der Kutikula-Schichten als auch das Verhältnis der einzelnen Komponenten, den Wassergehalt und die elementare Zusammensetzung des Materials. Als Ergebnis fanden sie eine Vielzahl von Anpassungen, die es der Kutikula ermöglichen, ein hervorragendes optisches Element zu werden.

„Die Arbeit an der Europäischen Synchrotronstrahlungsanlage in Grenoble und an der Lichtquelle BESSY II in Berlin ermöglichte es uns, Synchrotrons und ihre sehr kleinen fokussierten Lichtstrahlen zu nutzen, um Röntgenbeugung und Fluoreszenz durchzuführen. Dank dieser Techniken konnten wir die molekulare Struktur der Kutikula-Komponenten auf verschiedenen Längenskalen abbilden und herausfinden, welche chemischen Elemente für den Aufbau dieser speziellen Version der Kutikula verwendet werden“, erklärt Oliver Spaeker, Doktorand am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam und Hauptautor der Studie.

Die Forschenden entwickelten auch eine neue Methode, um die optischen Eigenschaften des Materials mit hoher Auflösung zu messen. Dazu arbeiteten sie mit dem tschechischen Unternehmen Telight zusammen und verwendeten die quantitative Phasenbildgebung. Die neue Methode ermöglichte es, die lokale Struktur des Materials mit den optischen Eigenschaften in diesem bestimmten Teil der Linse zu korrelieren.

Insgesamt fand das Team nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von Anpassungen auf allen Ebenen, die es dem Pfeilschwanzkrebs ermöglichen, die Kutikula für optische Elemente zu nutzen. „Alles, von der lokalen Zusammensetzung der Kutikula, insbesondere die Zugabe von Brom, bis hin zu mehrfachen Veränderungen in der Architektur des Verbundstoffs, d. h. dem Verhältnis zwischen seinen Bestandteilen, der Organisation der Proteine, dem unterschiedlichen Wassergehalt und der Gesamtform der Linse. Das alles trägt dazu bei, die Kutikula zu einem Material mit hervorragenden optischen Eigenschaften zu machen“, führt Prof. Politi aus.

„Was uns letztendlich am meisten überraschte, war, dass die Kutikula-Linsen so gut zu funktionieren scheinen, dass das Tier Pigmente einführen musste, um die Lichtmenge, die von der Linse aufgefangen wird, tatsächlich zu reduzieren“, fügt Prof. Politi hinzu.

Die Lehren von der ältesten Designerin

Ziel der Forschungsgruppe ist es, Designprinzipien aus Biomaterialien zu extrahieren. „Meine Forschenden wollen von der Natur lernen – sie ist die älteste und erfahrenste iterative Designerin der Welt, die unter den Zwängen der Evolution arbeitet“, sagt Prof. Politi. Langfristig können solche Erkenntnisse genutzt werden, um bessere Materialien herzustellen, die weniger komplex und leichter zu recyceln sind und dabei mindestens so gut funktionieren, wie sie müssen.

Über das B CUBE
Das B CUBE – Center for Molecular Bioengineering wurde 2008 als Zentrum für Innovationskompetenz (ZIK) durch die Initiative „Unternehmen Region“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gegründet. Es ist Teil des Center for Molecular and Cellular Bioengineering (CMCB). Die Forschungstätigkeit des B CUBE konzentriert sich auf die Untersuchung lebender Strukturen auf molekularer Ebene und die Übersetzung der daraus resultierenden Erkenntnisse in innovative Methoden, Materialien und Technologien.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Yael Politi
E-mail: yael.politi@tu-dresden.de

Originalpublikation:

Oliver Spaeker, Gavin J. Taylor, Bodo D. Wilts, Tomáš Slabý, Mohamed Ashraf Khalil Abdel-Rahman, Ernesto Scoppola, Clemens N. Z. Schmitt, Michael Sztucki, Jiliang Liu, Luca Bertinetti, Wolfgang Wagermaier, Gerhard Scholtz, Peter Fratzl, Yael Politi: Gradients of Orientation, Composition, and Hydration of Proteins for Efficient Light Collection by the Cornea of the Horseshoe Crab. Advanced Science (Oktober 2022)

Link: https://doi.org/10.1002/advs.202203371

Weitere Informationen:

http://www.tu-dresden.de/bcube

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Katrin Presberger Pressestelle
Technische Universität Dresden

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