Psychosomatikforscher schlagen Alarm: Essstörungen werden zu spät behandelt
PatientInnen mit Essstörungen sind in Berlin unterversorgt
Verspätete Therapie kann lebensbedrohlich sein
UKBF-Mediendienst Nr. 91 vom 9. Oktober 2000
Patientinnen und Patienten mit Essstörungen wie Magersucht (Anorexie) oder Esssucht haben häufig schwere Begleiterkrankungen. Bei Menschen, die an Magersucht leiden, ist die Sterblichkeit mit 15 bis 20 Prozent die höchste unter allen psychiatrischen beziehungsweise psychosomatischen Störungen. Entscheidend für die Heilungschancen ist es, dass eine zielgerichtete stationäre und später ambulante Behandlung sehr früh einsetzt.
Die Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) der FU Berlin hat jetzt Alarm geschlagen: In der Hauptstadt stehen viel zu wenig Behandlungsplätze zur Verfügung, schwer Kranke können nicht angemessen untergebracht werden!
Die Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie am UKBF ist ein international anerkanntes und mit Forschungspreisen ausgezeichnetes Zentrum für die Behandlung und Erforschung von Essstörungen.
Alljährlich veranstaltet die Abteilung eine Tagung für niedergelassene Allgemeinärzte, Internisten und Psychotherapeuten sowie Forscher aus ganz Deutschland. Die nächste Tagung findet am 2. Dezember statt (siehe weiter unten). Dabei wird unter anderem die schlechte Versorgungssituation in Berlin diskutiert werden.
Notstand
In Deutschland liegt die Häufigkeit für Magersucht bei Mädchen und Frauen zwischen dem 15. und dem 35. Lebensjahr bei 0,4 bis ein Prozent, für Bulimie („Ess-Brecht-Sucht“) bei drei bis vier Prozent und für Esssucht bei sechs Prozent. Für die 3,5 Millionen-Stadt Berlin bedeuten diese Zahlen, dass mindestens 2.000 Anorektikerinnen, 15.000 Bulimikerinnen und 20.000 esssüchtige Frauen versorgt werden müssen. Die Dunkelziffer von Störungsbildern, die noch nicht die vollen klinischen Definitionskriterien erfüllen, wird weit höher eingeschätzt. Die Verbreitung von Essstörungen ist damit jener des Diabetes (rund vier Millionen Betroffene in ganz Deutschland) vergleichbar.
Diese PatientInnen werden in der Regel von niedergelassenen Allgemeinmedizinern, Internisten, Gynäkologen und Psychotherapeuten behandelt.
Kompliziertere Fälle mit Essstörungen und gleichzeitig Diabetes mellitus oder der Darmkrankheit Morbus Crohn, PatientInnen, die keine Krankheitseinsicht haben oder in einem extrem schlechten körperlichen oder seelischen Zustand sind, werden im Regelfall den Universitätskliniken zugewiesen. Gerade bei diesen Kranken macht es sich bemerkbar, dass weder medizinisch noch psychotherapeutisch in ausreichendem Umfang Kompetenz und Behandlungsmöglichkeiten vorhanden sind. Während der Norden und die Mitte Berlins durch die Psychosomatischen Abteilungen der Inneren Medizin und der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Rudolf Virchow-Klinikums der Charité behandelt werden, besteht im Süden, Westen und Osten von Berlin sowie im Süden Brandenburgs keine ausreichende Möglichkeit, diese Risikopatienten stationär aufzunehmen.
Verspätete Behandlung verschlechtert Prognose
Das häufige Vorkommen von Begleiterkrankungen vor allem bei der Bulimie und der Esssucht (seelisch: Persönlichkeitsstörungen, körperlich: Zuckerkrankheit) und die extrem hohe Sterblichkeitsrate bei PatientInnen mit Magersucht verweisen auf das individuelle Leiden der Betroffenen, aber auch auf die volkswirtschaftlichen Aspekte dieser zum Teil schwer behandelbaren Krankheiten. Entscheidend ist, dass eine zielgerichtete stationäre und danach ambulante Psychotherapie rechtzeitig einsetzt. Dazu hat kürzlich Prof. Hans-Christian Deter (UKBF) zusammen mit seiner ehemaligen Heidelberger Arbeitsgruppe in der führenden medizinischen Fachzeitschrift Lancet eine Studie veröffentlicht. Darin zeigt sich, dass PatientInnen, die verspätet und nicht sachgerecht intensiv behandelt werden, eine deutlich schlechtere Prognose haben, versterben oder auf Dauer chronisch krank bleiben. Die intensivmedizinische Behandlung und die Kombination stationärer und ambulanter Psychotherapieverfahren hat sich bei diesem lebensbedrohlichen Krankheitsbild als die Methode der Wahl erwiesen.
Konzertierte Aktion gefordert
„Eine konzertierte Aktion von Fachzentren, Gesundheitsverwaltung, kassenärztlicher Versorgung und Kostenträgern ist dringend erforderlich“, erklärte Deter jetzt in einer Pressemitteilung des UKBF.
Auf dem diesjährigen Forum für psychogene Essstörungen in Berlin soll die aktuelle Situation anhand medizinstatistischer Erkenntnisse mit allen wichtigen Kostenträgern und der Gesundheitsverwaltung erörtert werden, um die Krankenversorgung für diese Kranken auch in Berlin auf ein Niveau nach internationalem Standard zu bringen, wie es in anderen deutschen Städten (München, Heidelberg, Freiburg, Essen) schon existiert.
Die Essstörungsforscher am UKBF fordern die Einrichtung eines Kompetenz-Zentrums für psychogene Essstörungen mit Poliklinik, teilstationärer und stationärer Therapie am UKBF, um die wichtigsten Versorgungsengpässe im Bereich Berlin und Brandenburg zu überwinden. Die enge Verzahnung zwischen stationärer, teilstationärer und ambulanter Therapie sowie die notwendige Einheit von universitärer Forschung und kompetenter Betreuung soll in Kooperation mit den Krankenkassen, den Wohlfahrtsverbänden, der Gesundheitsverwaltung und der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin auf den Weg gebracht werden. Dieses Zentrum versteht sich nicht als „Konkurrenz“ zu anderen Einrichtung oder zu niedergelassenen Ärzten, sondern als dringend notwendige Ergänzung und als Koordinationsstelle.
Ansprechpartner:
Universitätsklinikum Benjamin Franklin Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin
Prof. Dr. Hans-Christian Deter
Tel.: (030) 8445-2959, Fax: -4590
E-Mail: hcdeter@cipmail.ukbf.fu-berlin.de
PD Dr. Werner Köpp
Tel.: (030) 8445-3996, Fax: -4590
Die erwähnte wissenschaftliche Arbeit im "Lancet" kann bei Prof. Deter angefordert werden.
Tagung:
Samstag, 2.12.2000, 9.00 – 13.00 Uhr
UKBF, Hörsaal 2
Ab 11.15 findet eine Podiums-Diskussion statt, zu dem auch Publikum willkommen ist.
Das genaue Programm kann bei den o.a. Ansprechpartnern angefordert werden.
Hinweis:
Der nächste „Treffpunkt Tagesspiegel Medizin & Fitness“ – eine u.a. vom UKBF geförderte Veranstaltungsreihe – befasst sich am 29.11.00 im ICC mit dem Thema Ernährung, wobei auch Essstörungen zur Sprache kommen.
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