Keine Halskrause beim leichten Schleudertrauma

Neues Krankheitskonzept sollte Behandlung und Abfindungspraxis verändern

Die Behandlung der leichten, oft aber sehr hartnäckigen und langwierigen Form des so genannten Schleudertraumas mit einer Halskrause sowie die großzügige Abfindungspraxis der Haftpflichtversicherer könnte nach Meinung von Experten bald der Vergangenheit angehören. Da es sich in der Regel wohl nicht um eine Verletzung im Sinne einer strukurellen Schädigung, sondern um eine Muskelfunktionsstörung – eine Überlastung der Nackenmuskulatur – handelt, ist die Immobilisierung durch eine Halskrause sogar eher schädlich und führt dazu, dass sich die Beschwerden manifestieren und chronisch werden. Hilfreicher ist stattdessen ein gutes Schmerzmanagement mit Medikamenten und Eis, die Erlaubnis, sich auszuruhen, ohne dass Ruhe verordnet wird, sowie die Anleitung des Patienten zu maßvoller Aktivität und Bewegung. Das legen die Ergebnisse einer Pilotstudie nahe, die jetzt beim 9. Neuroorthopädie-Symposion in Koblenz vorgestellt wurden.

Gerade nach vermeintlich harmlosen Auffahrunfällen haben Fahrzeuginsassen häufig Schmerzen und Beschwerden im Nacken-, Schulter- und Kopfbereich, die in der Regel erst nach einer schmerzfreien Phase von einigen Stunden einsetzen. Bisher gingen die Experten davon aus, dass diese Symptome durch eine Distorsion – die „Verdrehung“ oder Verrenkung eines Gelenkes – mit Schädigung des Band- und Gelenkapparates hervorgerufen würden. Das nicht zu diesem Krankheitskonzept passende so genannte „freie Intervall“, also die Zeit zwischen Unfall und Einsetzen der Schmerzen, wurde mit Schock oder Ablenkung des Verletzten erklärt. Den schmerzenden Nacken-Schulter-Bereich ruhig zu stellen, war in diesem Konzept eine folgerichtige Maßnahme. Unerklärlich blieb allerdings, weshalb gerade eine Gruppe von Patienten, die eigentlich nicht schwer verletzt war, langwierige und chronische Beschwerden entwickelte.

Verantwortlich für die Schmerzen und Beschwerden ist wohl eher, so der Neurologe und Psychiater Dr. Bernhard Kügelgen, Leiter des Therapiezentrums Koblenz, eine Dehnung der kleinen Nackenmuskeln. Die Prozesse, die dabei im Muskel ablaufen, sind ganz ähnlich wie beim Muskelkater – der ja in der Regel auch erst am nächsten Tag richtig zu spüren ist. Besonders anfällig sind Personen, deren Nackenmuskulatur untrainiert ist. Verhängnisvoll wird die Sache allerdings erst, wenn diese Muskeln ruhig gestellt werden. Dann entsteht schon nach wenigen Tagen der so genannte Immobilisationsschmerz, der zu weiterer Bewegungseinschränkung führt. Ein Teufelskreis nimmt seinen Lauf. Dr. Kügelgen und seine Frau Cecilija Kügelgen, Krankengymnastin, haben deshalb in ihrer Pilotstudie Patienten, die schon seit längerer Zeit unter massiven Beschwerden meist nach einem Unfall mit Schleudertrauma litten, entsprechend behandelt. Die Patienten erlernten Techniken der Schmerzdistanzierung und der nicht-chemischen Schmerzbekämpfung, so dass die Medikamente nach und nach weggelassen werden konnten, und sie wurden zu Muskeldehnungs- und Muskelkräftigungsübungen angeleitet. Nach einem dreiwöchigen teilstationären Programm und dreimonatiger Nachbehandlung waren fast alle Patienten beschwerdefrei.

Bestätigt wurden diese Befunde im Laufe des Symposions auch von Seiten anderer Fachgebiete, beispielsweise der Sportphysiologie: Aus dem Sport ist bekannt, dass Beschwerden, wie sie auch beim Schleudertrauma auftreten, durch eine reflektorische, exzentrische Kontraktion ausgelöst werden können. Das verzögerte Auftreten des Schmerzes ist geradezu typisch für den „Muskelkater“. Dass Schmerzen auch lediglich durch Immobilisierung entstehen können, konnte in Versuchen mit sonst gesunden Versuchspersonen nachgewiesen werden, die sich eine Zeit lang nicht bewegen durften und die im Laufe von wenigen Tagen Schmerzen entwickelten. Das berichtete Professor Dr. Klaus Baum von der Sporthochschule Köln. Er empfahl deshalb ebenfalls, die Schleudertrauma-Patienten nach Ausschließen knöcherner oder neurologischer Schäden früh wieder in Bewegung zu bringen anstatt sie mit einer Halskrause zu immobilisieren.

Das neue Krankheitskonzept wird sich auch auf die derzeitige Entschädigungspraxis auswirken. Bisher wird die Diagnose „Schleudertrauma“ noch zu häufig vom erstuntersuchenden Arzt gestellt, und die Haftpflichtversicherer finden zu großzügig ab. So erhalten viele Unfallbeteiligte, die eigentlich gar keinen Schaden erlitten haben, eine Entschädigung, während andererseits Patienten, die sich jahrelang mit massiven Beschwerden quälen, leer ausgehen. Durch ein entsprechendes Frühmanagement der Erkrankung ließen sich einerseits „Simulanten“ schneller erkennen und andererseits könnte Schmerz und Leid bei den wirklich Betroffenen verhindert werden. Kurzfristig würde dadurch möglicherweise eine vorübergehende Kostenwelle entstehen, weil zunächst eine ganze Reihe von zu Unrecht abgelehnten Verletzten angemessen behandelt würde, langfristig aber könnte mit einem solchen Vorgehen Geld gespart werden.

Für Rückfragen steht Ihnen
Dr. Bernhard Kügelgen zur Verfügung.

Telefon: 0261/30330-0
Fax: 0261/30330-33
E-Mail:Kuegelgen@gmx.de

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Antje Schütt

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