Lübecker Wissenschaftler leitet größte jemals durchgeführte Studie zum Rückenschmerz
In einem neuen bundesweiten Forschungsverbund wird der Krankheitsverlauf von 15.000 Patienten untersucht
Mit der größten, jemals in Deutschland durchgeführten Verlaufsstudie bei Schmerzpatienten wollen Lübecker Wissenschaftler dem Phänomen Rückenschmerz in den nächsten drei Jahren auf den Grund gehen.
Unter Leitung von Dr. Thomas Kohlmann vom Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Lübeck (MUL) werden 15.000 Patienten aus Lübeck, Göttingen, Bochum, Marburg und Heidelberg über einen längeren Zeitraum darauf hin beobachtet, wie sich ihre Erkrankung entwickelt. Die epidemiologische Untersuchung ist Kern eines neuen, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten „Forschungsverbundes Rückenschmerz“, der Anfang Juli in Berlin ins Leben gerufen wurde.
„Über den Verlauf von Rückenschmerzen wissen wir in Deutschland gegenwärtig so gut wie gar nichts“, weist Dr. Kohlmann auf einen eklatanten Missstand hin. Die vorhandenen gesundheitsökonomischen Daten beruhten beinahe ausschließlich auf Schätzungen. „Wir können nicht sagen, wie es dem Patienten, der sich vor einem Jahr wegen akuter Rückenschmerzen behandeln oder wegen eines Bandscheibenvorfalls operieren ließ, heute geht.“ Das, so Kohlmann, ist aber von erheblicher Bedeutung, um z.B. die Wirksamkeit verordneter Therapien zu hinterfragen, Prognosen über den Heilungsverlauf zu stellen oder zu ermitteln, welche Kosten bei einzelnen Patientengruppen anfallen.
Seit mehr als zehn Jahren befassen sich die Wissenschaftler in dem von Prof. Heiner Raspe geleiteten Institut für Sozialmedizin mit dem Phänomen Rückenschmerz. Die hier gewonnenen Daten charakterisieren das ganze Ausmaß des Problems. Rückenschmerzen sind
– die mit Abstand häufigste Volkskrankheit. „Jeder Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung ist pro Jahr drei Tage wegen Rückenschmerzen krank geschrieben“, sagt Thomas Kohlmann. Damit gehen in Deutschland jährlich 600.000 Erwerbstätigkeitsjahre (!) verloren. Auch bei der Frühberentung und den stationären Reha-Maßnahmen nehmen Rückenschmerzen als Ursache mit 18 bzw. 20 Prozent eine einsame Spitzenstellung ein.
– die mit Abstand teuerste Volkskrankheit. Die Behandlungskosten belaufen sich auf jährlich etwa 20 Milliarden Mark, die Folgekosten durch Arbeitsausfall und vorzeitige Berentung auf weitere 30 Milliarden.
– bereits in jungen Jahren weiter verbreitet als jede andere Erkrankung: 80,5 Prozent der Männer und sogar 85,5 Prozent der Frauen zwischen 25 und 34 Jahren gaben an, schon einmal unter Rückenschmerzen gelitten zu haben. In den letzten sieben Tagen vor der Befragung hatte jede dritte Frau und jeder vierte Mann dieser Altersgruppe Rückenbeschwerden.
– die Erkrankung mit den meisten Fragezeichen. In aller Regel findet der Arzt keine Ursache für die Beschwerden. Bewegungsmangel und Übergewicht beispielsweise begünstigen zwar das Auftreten von Rückenschmerzen. Warum es aber nun gerade an dieser Stelle weh tut, dafür gibt es trotz umfangreichster Diagnoseverfahren in rund 80 Prozent der Fälle keine Begründung – die Leiden werden als „unspezifisch“ charakterisiert.
Wie Mediziner in der ärztlichen Praxis mit dem maladen Körperteil umzugehen haben, darüber streiten Experten seit Jahren. Kohlmann: „Wir haben zwar gültige Leitlinien zur Behandlung des Rückenschmerzes. Doch die sehen eher vor, was man alles nicht tun sollte.“ Röntgen, Spritzen verabreichen und Bettruhe verordnen – so viel ist inzwischen klar – helfen dem Patienten jedenfalls nicht, sondern wirken sich eher ungünstig auf den weiteren Krankheitsverlauf aus. „Einer Hamburger Untersuchung zu Folge führt nur eines von 2000 Röntgenbildern, die wegen Rückenschmerzen angefertigt werden, dazu, dass eine Ursache für den Schmerz gefunden wird. Die anderen 1999 Aufnahmen sind praktisch überflüssig“, erläutert der Lübecker Sozialmediziner.
Auch mit den vor allem von Allgemeinärzten und Orthopäden verordneten passiven Maßnahmen wie Massagen, Fangopackungen, Kälte- oder Wärmetherapien steht es nicht zum Besten. Kohlmann: „Es werden beim Rückenschmerz nach wie vor sehr viele Behandlungen durchgeführt, von denen man weiß, dass sie nicht oder nur wenig effektiv sind. Ob diese auf Veranlassung des Arztes oder auf Wunsch des Patienten verordnet werden, ist jedoch unklar.“
Die beste Methode, ohne erkennbare Ursache erstmals aufgetretene Rückenschmerzen zu behandeln, ist – zunächst einmal gar nichts zu tun. „Der Patient sollte nach Absprache mit dem Arzt versuchen, möglichst normal weiterzuleben, körperlich aktiv zu bleiben und sich nicht unnötig zu schonen. Für den Betroffenen gibt es keinen Grund zu verzweifeln. Ganz im Gegenteil: In 90 Prozent aller Fälle verschwinden akute Rückenschmerzen spätestens innerhalb von sechs Wochen auch ohne aufwendige Therapien.“
Problematisch und kostenintensiv sind jedoch die verbliebenen zehn Prozent. Bei diesen Patienten werden die Beschwerden auch in der Folgezeit nicht weniger. Lassen sich die hartnäckigen Schmerzen nicht innerhalb von drei Monaten lindern, gelten sie als chronifiziert. Psychische Belastungen in der Familie und am Arbeitsplatz (u.a. Hetze, Stress, Unzufriedenheit, Trennung, Angst vor Jobverlust) sowie persönliche Merkmale (Lebensstil, depressive Verstimmungen) wirken oft schmerzverstärkend und -verlängernd. Patienten mit chronischen Rückenschmerzen benötigen oft eine umfangreiche, Körper und Seele gleichermaßen einbeziehende Behandlung.
In dem neuen „Forschungsverbund Rückenschmerz“ soll in den kommenden Jahren das gesamte Diagnose- und Therapiespektrum in Deutschland von namhaften Experten kritisch unter die Lupe genommen werden. In großen kontrollierten Studien werden sowohl die Behandlung beim Hausarzt, als auch psychologische, physiotherapeutische und operative Verfahren auf ihre Wirksamkeit abgeklopft. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat dem Verbund, dessen Sprecher Dr. Kohlmann und Prof. Monika Hasenbring von der Uniklinik Bochum sind, für eine erste Förderphase 4,3 Millionen Mark bewilligt. Mehr als 20 Prozent dieser Summe gehen nach Lübeck an die MUL. Das Institut für Sozialmedizin arbeitet dabei mit anderen Abteilungen und Kliniken der MUL zusammen, u.a. mit den Kliniken für Anästhesie (Schmerzambulanz), Neurologie, Neurochirurgie, Psychiatrie und Innere Medizin.
Uwe Groenewold
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