Physiker und Linguisten erforschen, wie das Gehirn richtige Sätze von falschen unterscheidet

Irritation und Verständnis

Manche halten das menschliche Gehirn für das komplexeste System des Universums. Das mag übertrieben scheinen, doch kompliziert ist unser Denkapparat durchaus, denn schon jede einzelne der Milliarden Nervenzellen ist ein nichtlineares System, das nicht mehr einfach zu modellieren ist. Und zudem ist jede Nervenzelle im Durchschnitt mit zehntausend anderen Nervenzellen vernetzt, es gibt Rückkopplungen und merkwürdige Effekte, die all die Prozesse ermöglichen, die wir als geistig bezeichnen, so auch das Verstehen von Sprache. Doch das Gehirn lässt sich nur sehr indirekt beim Denken zusehen. Als überaus fruchtbar erweist sich dabei die Zusammenarbeit zwischen so verschiedenen Disziplinen wie der Linguistik und der Physik. Der Linguist Prof. Dr. Douglas Saddy und der Physiker Dr. Peter beim Graben von der Universität Potsdam ließen bei 26 Versuchspersonen ein so genanntes Elektroenzephalogramm (EEG) aufzeichnen, während diese auf einem Computerbildschirm etwa 40 verschiedene Sätze lasen. Dabei handelte es sich um ganz besondere Sätze, denn die Hälfte von ihnen war auf subtile Weise falsch und irritierte. Für die EEG-Aufnahmen trugen alle Teilnehmer eine Kappe, die mit Elektroden bestückt war und die an der Kopfhaut die kleinen Spannungsunterschiede registrierten, welche durch Hirnaktivität entstehen. Aus einem EEG lassen sich normalerweise nur sehr grundlegende Dinge ablesen, wie beispielsweise epileptische Anfälle, der Schlafzustand oder der Hirntod. Mit einer mathematischen Analyse erwiesen sich die EEG-Bilder jedoch als weitaus aussagekräftiger, zeigte beim Graben.
Der Satz: „Kein Mann war jemals glücklich“ ist ein normaler Satz, dessen grammatische Struktur keine besondere Aktivität im Gehirn erzeugt. Eine kleine Veränderung genügt jedoch, um zu irritieren, denn das Wörtchen „jemals“ funktioniert nur in Verbindung mit einer Verneinung. Der Satz: „Ein Mann war jemals glücklich“ ist grammatisch falsch, was das Gehirn nach rund 400 Millisekunden erkennt. Dieser „grammatische Juckreiz“ kann mit anderen Methoden als so genanntes ereignisbezogenes Potential nachgewiesen werden, ist aber im EEG normalerweise kaum sichtbar. Dr. Peter beim Graben legte nun die EEG-Aufnahmen aller Versuchsteilnehmer und aller Sätze aufeinander und untersuchte die gestapelten Zeitreihen. Mit Hilfe eines Maßes für die Unordnung ließen sich die Unterschiede in den EEG-Aufnahmen zwischen grammatisch korrekten und nicht korrekten Sätzen deutlich herausarbeiten. „Das verbessert enorm das Signal-Rausch-Verhältnis“, erklärt Peter beim Graben. Dazu verwendete der Physiker die Methoden der nichtlinearen Dynamik und der Komplexitätstheorie, die unter dem Schlagwort Chaosforschung bekannt geworden sind. Die Arbeit von beim Graben und Saddy, die auch in der renommierten Wissenschaftszeitschrift „Physical Review“ veröffentlicht wurde, hat zu einer neuen Erkenntnis geführt. Das „Staunen“ des Gehirns ähnelt einem Umschaltvorgang, wie er aus einfacheren biologischen Prozessen schon länger bekannt ist.

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Andrea Benthien idw

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