Durchtrennter Sehnerv – kein Dauerschicksal?
Fast kommt einem der Gedanke an Galileo Galilei und seinen legendären Ausspruch „Und sie dreht sich doch“. Denn wie im 17. Jahrhundert der italienische Naturforscher radikal mit dem mittelalterlichen Weltbild aufgeräumt hatte, so stellt auch folgende Erkenntnis ein bisheriges wissenschaftliches Dogma auf den Kopf: Durchtrennte Nerven im Gehirn können nachwachsen. Freilich hat dieses 1997 in der Abteilung für Experimentelle Ophthalmologie der Universitäts-Augenklinik in Münster erzielte Ergebnis mehrjähriger intensiver Forschungen über die Regenerationsfähigkeit des Zentralen Nervensystems die Welt nicht wie damals in ihren Grundfesten erschüttert. Gleichwohl könnten die Konsequenzen dieser wissenschaftlichen Erkenntnis bisheriges Denken revolutionieren. Dass Blinde wieder sehen oder gar Querschnittsgelähmte wieder gehen, dürfte nämlich nun keine bloße biblische Prophezeiung mehr sein, sondern möglicherweise schon in wenigen Jahren Realität.
„Die mühsamste Arbeit ist gemacht“, sieht Prof. Dr. Solon Thanos das Ziel seiner langjährigen Forschungsaktivitäten auf diesem Gebiet mittlerweile in greifbare Nähe gerückt. Möglicherweise schon in zwei bis drei Jahren könnte sich der Leiter der Abteilung für Experimentelle Ophthalmologie eine erste Anwendung der vielversprechenden experimentellen Arbeiten am Menschen vorstellen. Wenngleich sich der Biologe und Mediziner primär auf die Verletzung des Sehnervs und die Entwicklung entsprechender therapeutischer Strategien konzentriert, so geht er doch von vornherein davon aus, dass das Prinzip auch auf andere zerstörte Bereiche des zentralen Nervensystems übertragbar sein wird.
Dass durchtrennte Nerven in Gehirn und Rückenmark entgegen bisheriger fester wissenschaftlicher Überzeugung durchaus in der Lage sind, nachzuwachsen und ihre Funktion wiederzuerlangen, hat die interdisziplinäre Arbeitsgruppe um Prof. Thanos anhand einer Überbrückung des durchtrennten Nerven durch ein Segment
aus dem Ischiasnerv nachgewiesen. Die mikrochirurgischen Nerventransplantation hat die Erwartungen der Wissenschaftler voll erfüllt. Die durchtrennten Fasern des Sehnervs begannen in der Tat zu wachsen. Um 1, 3 Millimeter pro Tag verlängerten sie sich und wuchsen so immer mehr in den „Bypass“ aus dem Ischiasnervsegment hinein. Was nach einem gescheiterten Versuch des spanischen Neurobiologen Ramon y Cajal seit Jahrzehnten niemand für möglich gehalten hätte, konnte so vor vier Jahren in Münster bewiesen werden. Doch wenngleich damit gezeigt werden konnte, dass auch Zellen in Gehirn und Rückenmark generell in der Lage sind, sich zu regenerieren, so konnte damit zunächst noch nichts über die Funktion des nachgewachsenen Nerven ausgesagt werden.
Wie viele Fasern wachsen überhaupt nach? Geben die nachgewachsenen Nervenfasern dem Gehirn die gleichen Informationen wie vor dem Unfall? Wie ist die Qualität der neu erlangten Sehfunktion? Und wie lässt sich die Funktion beim Tier überhaupt überprüfen? In weiteren Versuchen konnte das 20-köpfige internationale Team um Prof. Thanos auch diese Fragen mittlerweile weitestgehend beantworten. Um das Sehvermögen der Versuchstiere zu überprüfen, wurde über eine an der Nahtstelle der Faser angebrachte und mit dem Gehirn verbundene Elektrode die Aktivität der Fasern elektrophysiologisch abgeleitet und die Qualität der Potenziale verglichen. Die Ergebnisse übertrafen auch hier die kühnsten Erwartungen. Zehn Prozent der Sehkraft bei Ratten, 20 Prozent gar bei Affen – diese Erfolge machten Mut, auf diesem Weg weiterzumachen.
Wobei die münsterschen Wissenschaftler allerdings schon wieder einen Schritt voraus sind. Die Nerventransplantation sei gut geeignet gewesen, um die Regenerationsfähigkeit der Nervenzellen nachzuweisen, sagt Thanos. Als späteres Behandlungsverfahren beim Menschen hat er inzwischen einen ganz anderen Ansatz im Auge, und zwar die Gentherapie. Im Mittelpunkt der Arbeiten in der Experimentellen Ophthalmologie in Münster stehen derzeit molekularbiologische Arbeiten. Es geht dabei darum, herauszufinden, welches Gen der Zelle das Signal zum Nachwachsen gibt. Ziel der in enger Kooperation mit dem Institut für Medizinische Physik und dem Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung der Universität durchgeführten Arbeiten ist es, später das betreffende Gen zu rekonstruieren und es über eine Genfähre, etwa ein Virus, in die verletzte Nervenzelle zu schleusen. Damit wäre ohne mikrochirurgischen Eingriff auf elegante Art und Weise eine schonende und dennoch wirksame Behandlung der Unfallopfer möglich.
Schon jetzt versucht Thanos, eine bundesweite Datei von Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma aufzubauen. Zwar könnte eine Behandlung vorerst nur innerhalb der ersten drei Monate nach der Verletzung greifen, weil die Nervenzellen sonst unwiederbringlich verloren sind. Doch der engagierte Wissenschaftler setzt hier neben den von seiner Gruppe entwickelten Behandlungsverfahren auf eine Therapie mit Stammzellen. Wenn es nicht nur gelingt, dass durchtrennte Nervenfasern nachwachsen, sondern dass auch durch den programmierten Zelltod verschwundene Nervenzellen ersetzt werden können, dann wäre vielleicht auch Hoffnung für die Menschen in Sicht, deren Unfall schon längere Zeit zurückliegt. Und dass dann eines Tages nicht nur Blinde wieder sehen, sondern vielleicht auch Lahme wieder gehen, könnte dann durchaus keine bloße Utopie mehr sein.
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