Experten für Selektiven Mutismus: Wenn Kinder plötzlich schweigen

Marvin ist ein neugieriges, aufgewecktes Kind. Doch im Kindergarten versteckte er sich plötzlich nur noch hinter seinem Kuschelkissen, hockte stundenlang auf einem Stuhl und sagte kein einziges Wort. Nur mit seinen Eltern und den beiden Schwestern sprach der Dreijährige ganz unbefangen – sobald die Großeltern oder gar Fremde den Raum betraten, zog sich Marvin völlig zurück. Auch der Kinderarzt wusste keinen Rat, hielt das Verhalten für eine Trotzphase. Eine Phase, die allerdings kein Ende nahm. Über das Internet wurde die Familie schließlich auf das Sprachtherapeutische Ambulatorium an der Universität Dortmund aufmerksam. Hier erkannte man, dass der kleine Junge unter Selektivem Mutismus leidet.

„Eins, zwei, drei ?“ Leise zählt der heute fünfjährige Marvin die leckeren Schokokugeln, die ihm ein „Zauberer“ in einem Rollenspiel schenkt. Noch vor einem Jahr hätte er wie versteinert in der Ecke gestanden und keinen Ton von sich gegeben. Mit einer Handpuppe hat Prof. Nitza Katz-Bernstein Kontakt zu dem Jungen aufgenommen. „Engelsgeduld und Phantasie sind dabei nötig“, weiß die Leiterin des Ambulatoriums. Etwa eines von 1.000 Kindern sei von der ungewöhnlichen Kommunikations- und Angststörung betroffen. Doch die Zahl steige, vor allem bei Migranten- und verwahrlosten Kindern, so Katz-Bernstein.

Seit anderthalb Jahren kommt Marvin einmal pro Woche zur Sprachtherapie. Bereits nach 20 Wochen gelang es, dass sich der Junge ganz normal mit der Therapeutin Kerstin Bahrfeck-Wichitill unterhielt. Das Eis wurde gebrochen durch „Schnecki“, eine kleine Handpuppe, die anfangs genauso unsicher war und sich in ihr Schneckenhaus zurückzog. Heute sind die beiden dicke Freunde. Marvin selbst nimmt die Therapie wie einen Besuch wahr. „Ich fahre zu Schnecki“, sagt er zu seinen Schwestern. „Und wenn die Stunde einmal ausfällt, ist das schon fast eine kleine Katastrophe“, erzählt seine Mutter. Sie ist froh, dass ihr Kind den Kreis seiner Vertrauten langsam erweitert. „Er war wie eine Wachsfigur, hat nie geschrieen oder geweint. Es war schlimm, das mit anzusehen.“

Das Sprachtherapeutische Ambulatorium gehört zum Zentrum für Beratung und Therapie der Fakultät Rehabilitationswissenschaften. Es ist zugleich eine spezialisierte Forschungsstelle – im Bezug auf Mutismus auf diese Art einmalig an einer Universität im deutschsprachigen Raum. Hier werden neue Therapieformen entwickelt. Studierende können diese durch einen Einwegspiegel beobachten und lernen dadurch viel über seltene Phänomene. Zu einigen von ihnen hat Marvin bereits Kontakte geknüpft. Heute testet er zum Beispiel mit Susanne, wer am längsten still sein kann. Susanne verliert, denn sie muss plötzlich lachen.

30 Kinder kommen regelmäßig zur Therapie, davon sechs mutistische. Die Warteliste ist lang und deshalb versuchen die Dortmunder Expertinnen, Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Sie bieten Informationsabende für Lehrer und Eltern an. Dabei wird erklärt, wie man schweigende Kinder verstehen und unterstützen kann. Denn oftmals würde Mutismus nicht erkannt oder Eltern und Lehrer gäben zu früh auf. Mindestens anderthalb Jahre dauere eine behutsame Therapie, die Erfolgsquote liege bei fast 80 Prozent, so Katz-Bernstein: „Ohne Therapie wird ein Stück Sozialisation verpasst, das nicht nachgeholt werden kann. Aus den stillen Kindern entwickeln sich verschlossene, schweigsame Menschen.“ Manche sprechen bis ins Erwachsenenalter hinein kein einziges Wort.

Herausforderung und zugleich Chance ist für Marvin die Einschulung im nächsten Jahr. Die Sprachtherapie bereitet ihn schon jetzt spielerisch darauf vor. Seine Kindergartengruppe hat akzeptiert, dass Marvin nur selten mit anderen spricht, und wenn, dann in einem Geheimversteck. Doch in der Schule ist ein Neuanfang möglich, denn dort kennen ihn die anderen nicht als schweigendes Kind. Mit Unterstützung des Ambulatoriums wird Marvin vielleicht ein Schüler sein, der einfach nur etwas ruhiger ist als die anderen. Schon jetzt ist er verständlicherweise stolz darauf, wenn es ihm gelingt, allein beim Bäcker Brötchen zu kaufen.

Weitere Informationen:
Mu|tismus [zu lat. mutus = stumm, schweigend, ohne Sprache] ist eine seelisch bedingte Stummheit. Die Betroffenen kommunizieren nur noch mit bestimmten Personen oder in speziellen Situationen. Auch Geräusche wie Niesen werden teilweise unterdrückt.

Für dieses Verhalten gibt es laut Prof. Nitza Katz-Bernstein unterschiedliche Ursachen:
1. Trennungsängste (i.d.R. von der Mutter) beim Übergang in den Kindergarten oder die Schule
2. die Angst vor der eigenen Stimme und ihrem Klang
3. ein Trauma, z.B. nach einem Unfall oder einer Gewalterfahrung
4. eine Trotzreaktion (selten)

Neu erschienen:
Nitza Katz-Bernstein: Selektiver Mutismus bei Kindern. Erscheinungsbilder, Diagnostik, Therapie. ISBN: 3-497-01754-X

Kontakt:
Prof. Nitza Katz-Bernstein und Dr. Katja Subellok, Sprachtherapeutisches Ambulatorium im Zentrum für Beratung und Therapie der Universität Dortmund, E-Mail: spramb@pop.uni-dortmund.de

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Ole Lünnemann idw

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