Hirnforscher entdecken lichte Kehrseite eines "verrufenen" Moleküls
Nervenzellen brauchen Cholesterin, um Kontakte zu knüpfen / Neue Perspektiven für Behandlung von Hirnläsionen
Eine bislang unvermutete Rolle von Cholesterin bei der Bildung von Kontaktstellen zwischen Nervenzellen haben Wissenschaftler einer Nachwuchsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft am Centre de Neurochimie in Strasbourg/Frankreich entdeckt (Science, 9. November 2001). Die Ergebnisse deuten auf einen Zusammenhang zwischen dem Cholesterin-Stoffwechsel im Zentralnervensystem und der Hirnentwicklung sowie Lernen und Gedächtnis und verweisen auf neue Strategien, um krankheits- und verletzungsbedingte Hirnläsionen zu behandeln.
Die Funktion des Nervensystems beruht auf dem Austausch elektrischer Signale zwischen Nervenzellen, der durch hochspezialisierte Kontaktstellen, die sogenannten Synapsen, vermittelt wird. Ihre Bildung ist eine entscheidende Phase während der Hirnentwicklung und spielt eine wichtige Rolle für Lernen und Gedächtnis. Bisher liegen die Mechanismen dieses Vorgangs noch weitgehend im Dunkeln, daher ist ihre Aufklärung ein wichtiges Ziel der neurowissenschaftlichen Forschung. Außerdem ist die Kenntnis „synaptogener“ Faktoren entscheidende Vorraussetzung, um synaptische Verbindungen wiederherstellen zu können, wenn diese durch Verletzungen, Schlaganfall oder neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer zerstört wurden.
Einen Hinweis auf die Existenz eines synaptogenen Faktors ergaben Untersuchungen, die Dr. Frank Pfrieger, gegenwärtig Leiter einer bilateralen Nachwuchsgruppe der Max-Planck-Gesellschaft mit dem französischen Centre National de Recherche Scientifique, vor einigen Jahren im Labor von Prof. Barres an der Stanford Universität in den USA durchgeführt hatte. Die beiden Forscher untersuchten, ob Neurone von allein überhaupt Kontakte untereinander knüpfen können oder ob sie dafür die Hilfe so genannter Gliazellen benötigen. Gliazellen bilden einen Grossteil des Nervengewebes und unterstützen die Entwicklung und Funktion des Gehirns in vielfältiger Weise. Die beiden Wissenschaftler untersuchten isolierte Nervenzellen in Kulturschalen und fanden, dass die Zellen unter „glia-freien Bedingungen“ zwar überleben und auswachsen, aber nur wenige von Synapsen erzeugte elektrische Signale zeigen. Lösliche Faktoren, welche von bestimmten Typen von Gliazellen produziert werden, induzierten eine starke Erhöhung der synaptischen Aktivität.
Nach seiner Rückkehr aus den USA begann Dr. Pfrieger als Leiter einer Arbeitsgruppe am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin damit, den bislang unbekannten Faktor zu identifizieren und seinen Wirkungsmechanismus aufzuklären. Vor einigen Monaten zeigten die Arbeitsgruppen von Pfrieger und Barres unabhängig voneinander, dass der „Gliafaktor“ die Zahl der Synapsen sowie deren Übertragungseffizienz stark erhöht. Diese Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Gliazellen tatsächlich eine Rolle bei der Entstehung von Synapsen spielen könnten. Die Identität dieses synaptogenen Faktors blieb jedoch weiter im Dunkeln.
Nun gelang Pfriegers Arbeitsgruppe der Durchbruch: In der „Science„-Ausgabe vom 9. November 2001 berichten sie über ein überraschendes Ergebnis: Bei dem gesuchten Faktor handelt es sich um Cholesterin!
Cholesterin, mittlerweile eine der wohl bekanntesten biologischen Substanzen, ist ein essenzieller Bestandteil der Membran, die jede Zelle des Körpers umhüllt. Seinen schlechten Ruf verdankt es der Tatsache, dass ein hoher Cholesterinspiegel im Blut das Risiko für Arteriosklerose – und infolgedessen Herzinfarkt und Schlaganfall – erhöht. Die Identifizierung von Cholesterin als synaptogener Faktor zeigt nun eine überraschend positive Kehrseite dieses Moleküls. Pfrieger vermutet, „dass die Verfügbarkeit von Cholesterin im Gehirn das Ausmaß der Synapsenbildung begrenzt, und dass Störungen des Cholesterolstoffwechsel im Gehirn daher möglicherweise dessen Entwicklung und Funktion beeinträchtigen.“
Pfriegers Ergebnisse deuten darauf hin, dass Nervenzellen selbst genügend Cholesterin produzieren, um zu überleben und zu wachsen, aber zu wenig, um genügend synaptische Kontakte zu knüpfen. Sie scheinen daher auf die externe Versorgung mit diesem Molekül angewiesen. Doch woher beziehen die Nervenzellen diese Extra-Menge an Cholesterin? Pfrieger meint dazu: „Das Gehirn kann den im Blut enthaltenen Vorrat nicht anzapfen, da die Lipoproteine, welche den Transport von Cholesterin vermitteln, darunter die berühmtberüchtigten LDL und HDL, zu groß sind, um die Blut-Hirn-Schranke passieren zu können. Daher muss es seinen Bedarf an Cholesterin selbst decken.“
Den neuen Forschungsergebnissen zufolge produzieren Gliazellen Cholesterin im Überschuss und beliefern die Nervenzellen damit. Dieser Zusammenhang verweist erstmals auf eine neue Rolle von Gliazellen als Cholesterin-Lieferanten im Gehirn und würde die bislang ungeklärte Frage beantworten, warum Gliazellen überhaupt cholesterinhaltige Lipoproteine freisetzen.
Die neuen Ergebnisse werfen aber auch eine Reihe von Fragen auf: Wie fördert Cholesterol die Synaptogenese? Dient es als Baustoff für synaptische Komponenten, oder wirkt es als Signal, das weitere zelluläre Prozesse in Gang setzt? Beeinflussen Veränderungen in der Verfügbarkeit von Cholesterol im Gehirn die geistige Entwicklung, die Lernfähigkeit oder die Gedächtnisleistung?
Darüber hinaus ergeben die Erkenntnisse auch neue Hypothesen bezüglich der Alzheimerschen Krankheit. Strukturelle Veränderungen im sogenannten Apolipoprotein E, einem wichtigen Bestandteil von Cholesterin-Transport Komplexen, erhöhen das Risiko, an einer altersbedingten Form von Alzheimer zu erkranken. Hier stellt sich nun die Frage, ob dies auf eine Unterversorgung der Nervenzellen mit Cholesterin und somit eine verminderte Erneuerung von Synapsen zurück zu führen ist. Pfriegers Arbeitsgruppe wird diesen Fragen in Zusammenarbeit mit anderen Forscherteams nachgehen.
Insgesamt werfen die Erkenntnisse ein völlig neues Licht auf ein oft „geschmähtes“ Molekül und liefern neue Ansatzpunkte für die neurobiologische Forschung sowie für Strategien zur Behandlung von Hirnfunktionsstörungen.
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