Ethik in der Medizin
Den Gesundheitswesen aller westlichen Länder stehen große Veränderungen bevor, und
über die notwendigen Reformen müssen die Gesellschaften einen Konsens herstellen. Der Tübinger Medizinethiker Prof. Urban Wiesing möchte eine offene und transparente Diskussion über die ethischen Grundüberzeugungen, die medizinischen und gesundheitspolitischen Entscheidungen zugrunde liegen, anregen.
Gerechtigkeit im Gesundheitswesen
Tübinger Ethiker über moralische Grundlagen von medizinischen Entscheidungen
„Gesundheit ist ein umfassenderes Problem als Medizin“ – dieser Grundgedanke liegt mehreren Forschungsvorhaben am Lehrstuhl für Ethik in der Medizin der Universität Tübingen zugrunde. In mehreren Arbeitsgruppen um Prof. Urban Wiesing wird versucht, Klarheit darüber zu gewinnen, welche ethischen Überzeugungen medizinische Entscheidungen leiten.
An einem Beispiel können die Ethiker deutlich machen, was damit gemeint ist: Wenn zwei Patienten auf eine Spenderniere warten, so wird bei gleicher Wartezeit dem Patienten mit der besseren Gewebeverträglichkeit das Organ gegeben. Diese Entscheidung wird, so die Ethiker, damit begründet, dass der Patient mit der besseren Gewebeverträglichkeit größere Chancen hat, dass das Organ im Körper funktioniert und dass er mit dem Organ noch lange leben kann.
Hinter der Entscheidung steht also, neben medizinischen Faktoren wie Gewebeverträglichkeit und Allgemeinzustand des Patienten, der Nutzen, den das Organ für das Leben des Patienten hat. „Man hat eine Entscheidung gefällt, die unzweifelhaft ethischer Natur ist: Man erhofft sich von dieser Regelung, dass der Nutzen für den Einzelnen möglichst groß werden wird, da man davon ausgeht, dass die Zeit mit einem funktionierenden Transplantat in der Regel für den Patienten einen Nutzen darstellt“, erklärt Wiesing. Ein Begriff wie „Nutzen“ sei kein medizinischer, sondern ein wertender Begriff, der ganz verschieden interpretiert werden kann: Der Nutzen des transplantierten Organs ist groß, wenn ein Patient lange davon profitiert; der individuelle Nutzen des älteren Patienten ist freilich auch sehr groß, denn er würde mit dem transplantierten Herzen überleben können. „Welche Art von Nutzen als Begründung für die Zusage oder Ablehnung einer Transplantation vorgebracht wird, wird bei solchen Entscheidungen nicht offen dargelegt, sondern hinter scheinbar medizinischen Kriterien verborgen“, kritisiert der Mediziner und Philosoph.
In der Arbeitsgruppe um Wiesing wird nun versucht, die ethischen Grundannahmen, die vielen medizinischen und auch gesundheitspolitischen Entscheidungen zugrunde liegen, herauszuarbeiten. Dass über Grundlagenprobleme der Gesundheitspolitik in dieser und noch weiteren Arbeitsgruppen in der medizinischen Ethik gearbeitet wird, hat seinen Grund in den großen Problemen, die die Gesundheitspolitik allen westlichen Ländern bereitet: Die möglichen medizinischen und medizintechnischen Leistungen allen Bürgern zur Verfügung zu stellen, ist kaum noch zu finanzieren. Die Ausgaben für die Krankenversorgung stehen auch in Konkurrenz zu anderen öffentlich finanzierten Gütern wie etwa Bildung, Bekämpfung von Armut, oder – nach den aktuellen Ereignissen in den USA – Schaffung von Sicherheit. In Deutschland wird in der aktuellen Politik über die Möglichkeiten diskutiert, wie im Gesundheitswesen Kosten zu reduzieren sind. „Es wird aber kaum über die Tatsache gesprochen, dass es Wertentscheidungen sind, die gefällt werden, wenn Änderungen in der Gesundheitsversorgung gefordert werden“, so Wiesing. Solche Forderungen, dass sich etwa gesetzlich Versicherte zusätzlich privat absichern sollen, um den bisherigen Leistungsumfang sichern zu können, sind nicht medizinisch zu begründen. In diesem Fall ist die Frage, was der Gesellschaft und dem einzelnen Bürger die Gesundheitsversorgung wert ist. Die Debatte über Werturteile ist jedoch tabuisiert, so Wiesing, und deshalb sollte, bevor an der Gesundheitsversorgung grundsätzliche Änderungen vorgenommen werden, „die Diskussion in Deutschland transparenter werden und an Redlichkeit gewinnen“.
Die Wertentscheidungen, die etwa hinter den medizinisch-wissenschaftlichen Entscheidungen bei der Vergabe von Transplantationsorganen stehen, müssten offen angesprochen werden. Dadurch könnten auch die Ärzte bei ihrer Entscheidung, wer für eine Transplantation in Frage kommt, entlastet werden: „Das medizinische Wissen kann genutzt werden, um die getroffenen Wertentscheidungen möglichst exakt und nachvollziehbar umzusetzen“, meint Wiesing. Denn zuständig für Wertentscheidungen, die nicht nur Transplantationskriterien betreffen, sondern die Mittelverteilung in der Gesundheitsversorgung insgesamt steuern, können nicht die Ärzte (allein) sein. Auch die Bürger in den demokratischen Gesellschaften müssten entscheiden, wie sie die knapper gewordenen Ressourcen im Gesundheitswesen verteilen wollen.
Für die Diskussion über die ethischen Grundlagen gesundheitspolitischer Entscheidungen hat die Arbeitsgruppe Vorschläge aus der amerikanischen Bioethik aufgegriffen. „Die akademische Bioethik hat, vor dem Hintergrund der amerikanischen Tradition der angewandten Ethik einen Vorsprung in der Diskussion um moralische Grundpositionen der Gesundheitspolitik“, sagt Wiesing. Außerdem spielt das Gesundheitssystem der USA in der aktuellen Entwicklung eine besondere Rolle: Die USA geben weltweit den größten Teil ihres Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen aus und deshalb werden Probleme der Finanzierbarkeit intensiver diskutiert als in den europäischen Ländern. Besonderes Augenmerk gilt dabei auch den Möglichkeiten der Kostendämpfung, die das amerikanische Gesundheitssystem ohne Pflichtversicherung für alle nahe legt: eine Kombination von Wettbewerbselementen und verstärktem Management in der Gesundheitsversorgung – unter dem Schlagwort „Managed Care“ bekannt. Bei der Diskussion der amerikanischen ethischen Positionen geht es keinesfalls um eine Verteidigung des amerikanischen Gesundheitssystems, denn „in diesem System sind 40 Millionen Menschen unterversichert beziehungsweise gar nicht versichert“, so Wiesing. Aber durch die lange und offener geführte Diskussion sind die Positionen und die Argumente, die für
oder gegen bestimmte Überzeugungen sprechen, klarer entwickelt.
Die medizinethische Forschergruppe erörtert nicht nur theoretische Positionen, sondern auch konkrete Vorschläge, wie in den USA in das Gesundheitswesen eingegriffen wurde. Im Staat Oregon zum Beispiel wurde anhand eines Kosten-Nutzen-Profils eine Prioritätenliste festgelegt, nach der die einzelnen Gesundheitsleistungen bewilligt wurden. Diese Liste, so die Forscher, liefert ein einmaliges Beispiel für die Anwendungsprobleme eines Ansatzes, der allein das Kosten-Nutzen-Verhältnis berücksichtigt.
Der Handlungsbedarf im Gesundheitswesen in Deutschland ist offenkundig, das zeigen die Meldungen in den Zeitungen fast täglich. Damit die Vorschläge für Änderungen am Gesundheitssystem wirklich ernsthaft diskutiert werden können, arbeiten die Medizinethiker an theoretischen Grundlagen für Reformen im Gesundheitswesen. Lässt man sich in Deutschland auf diese Diskussion ein, so könnte dies nach Überzeugung von Wiesing den Effekt haben, dass sich gute Argumente dafür herausarbeiten lassen, die europäischen Traditionen der Sozial- und Krankenversicherung für alle zu verteidigen.
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