Erste Dünndarm-Transplantation an der Charité – Innovation bei der Ernährung
AUS DER MEDIZIN FÜR DIE MEDIEN 25 – 2000
In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni ist in der „Klinik für Allgemein-, Viszeral und Transplantationschirurgie“ der Charité eine Dünndarmtransplantation erfolgreich durchgeführt worden. Die Klinik, Deutschlands größtes Transplantationszentrum, hat diese Transplantationart seit langem wissenschaftlich vorbereitet. Erster Empfänger ist nun eine junge Frau, die ein Spenderorgan aus Berlin erhielt, sodaß zwischen Entnahme und Empfang nur die optimal kurze Frist von 2 1/ 2 Stunden verstrich.
Wie Oberärztin und Privatdozentin Dr. Andrea Müller, die die Transplantion leitete, sagt, litt die Patientin seit ihrer Kindheit an einer angeborenen Mißbildung, einer „Malrotation“ des Darmes . In ihrem Fall war der Dickdarm ausschließlich linksseitig gelagert, statt sich wie üblich im Bogen über den gesamten Leib auszudehnen. Außerdem war der Dünndarm verdreht, was wiederholt zu lebensgefährlichen Einstülpungen und Entzündungen führte, die zu vielfachen chirurgischen Eingriffen zwangen. Bei jeder dieser Operationen (in auswärtigen Krankenhäusern) mußte ein Stück des ursprünglich mehrere Meter langen Dünndarms entfernt werden, bis nur noch 40 Zentimeter übrig blieben. In diesem Zustand kam die Patientin vor ca 10 Monaten erstmals in die Charité. Seit diesem Zeitpunkt wurden erneut mehrere Operationen erforderlich, sodaß der Dünndarm schließlich auf 10 cm verkürzt und eine normale Ernährung nicht mehr möglich war. Vielmehr mußte auf die Zufuhr von Nährstoffen per Infusion übergegangen werden. Für diese „parenterale“ Ernährung wurde ein dauerhafter Zugang zum Gefäßssystem gelegt. In dessen Umgebung sind weitere Entzündungen aufgetreten, die erneut Operationen nach sich zogen.
Da der Dünndarm nicht nur der Verdauung dient, sondern dank seiner zahlreichen Immunzellen auch ein großes Entgiftungsorgan ist, sinkt die körperliche Abwehrkraft, wenn der Darm verloren geht. Dies wiederum macht Infektionen lebensgefährlich. Außerdem beschädigte die parenterale Ernährung die Leber, die teilweise schon bindegewebig (fibrotisch) umgebaut war. Obendrein wurde auch der Dickdarm durch die Infusionsernährung seiner Aufgaben enthoben. Bei der Patientin war er monatelang ruhig gestellt und verklebt, bis er vor der Dünndarmtransplantation gereinigt und für die Nahrungspassage wieder durchgängig wurde.
Die Frau hat die Transplantation gut überstanden und ist wohlauf. Frau Dr. Müller führt dies auch auf eine Innovation zurück, die sie hier erstmals bei einer Dünndarmtransplantation eingesetzt hat. Statt nämlich den Empfänger des Transplantates für mehrere Tage nüchtern zu lassen (in der Absicht, die Nahtstellen im Darm schonend heilen zu lassen) weicht Frau Dr. Müller bewußt von diesem Verfahren mit einem Ernährungskonzept ab, das sich ihr in Tierstudien und bei Patienten mit schweren Darmerkrankungen bewährt hat: Die Patientin erhielt unmittelbar nach der Transplantation über eine dünne Ernährungssonde eine flüssige Diät, die reich an bestimmten Amino- und Fettsäuren (Arginin, Glutamin und Omega-3-Fettsäuren, Lactobazillen und Ballaststoffen) ist. Offenbar bekommt es dem Darm gut, wenn er sofort von innen ernährt wird und Verdauungsleistungen erbringen muß. Die Spezialnahrung scheint auch sogenannte Reperfusionsschäden zu mindern, die jedes gespendete Organ erleidet, wenn es zum ersten Mal mit dem Blut des Empfängers durchflutet wird. Außerdem glaubt Müller, durch die sofortige Ernährung einer besonderen Gefahr vorzubeugen: Ließe man Transplantatempfänger nur drei Tage nüchtern, so wanderten Bakterien vom Dickdarm hinauf in den transplantierten Dünndarm. Immunzellen des Empfängers würden dann nicht nur versuchen, diese Bakterien zu vernichten, sondern auch das Transplantat als „fremd“ angreifen.
Gute Erfahrungen hat Frau Dr. Müller mit der Sondenernährung auch bei inzwischen etwa 50 Patienten gemacht, die wegen anderer (entzündlicher) Darmerkrankungen (Morbus Crohn, Bauchfellentzündung) chirurgisch behandelt werden mußten.
Weltweit sind bisher etwa 500 Dünndarmtransplantationen durchgeführt worden, davon einzelne auch in Deutschland. In den 5 großen Zentren der Welt, die besondere Erfahrungen mit diesem Verfahren haben, liegt die Ein-Jahresüberlebensrate bei 90 %.
Silvia Schattenfroh
Charité
Medizinische Fakultät der
Humboldt Universität zu Berlin
Dekanat
Pressereferat-Forschung
Dr. med. Silvia Schattenfroh
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