Die Zukunft vorhersagen
Forscher und Forscherinnen vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik, der Aix-Marseille Université, der New York University und der Universität Genf fordern in einem gemeinsamen Leitartikel die Überarbeitung bisheriger Theorien zu neuronalen Mechanismen der zeitlichen Verarbeitung von Musik und Sprache.
Sie stellen darin einen theoretischen Ansatz vor, der die Interaktion unterschiedlicher Hirnregionen in die bisherigen Verarbeitungsmodelle umfassend integriert. Der Ansatz ermöglicht erstmalig, sowohl periodische als auch aperiodische zeitliche Vorhersagen zu erklären.
Das Erkennen von Zeitstrukturen und die Vorhersage des Zeitpunkts eines Signals sind grundlegende Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Sie sind mehr noch eine wesentliche Voraussetzung für das Verstehen von Sprache oder die Verarbeitung von Musik, die über das reine Hören hinausgehen.
Bisherige Forschung hat sich vor allem auf die neuronalen Mechanismen konzentriert, die es uns erlauben, periodische also regelmäßig wiederkehrende Signale zu verarbeiten und aufgrund dieser zeitliche Vorhersagen zu treffen. Bisher wurde angenommen, dass dies durch neuronale Schwingungen, sogenannte Oszillationen, die im Gehirn auf ein sich wiederholendes Signal folgen, geschieht.
Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass das menschliche Gehirn auch in der Lage ist, aperiodische, also nicht regelmäßige, zeitliche Vorhersagen zu treffen. Diese Tatsache kann allein durch die Oszillationstheorie nur unzureichend erklärt werden.
Mittels aperiodischer Vorhersagen ist das Gehirn zum Beispiel in der Lage, den Verlauf einer Bewegung abzuschätzen oder die Dynamik eines Gesprächs zu beurteilen. Dies legt nahe, dass aperiodische Prozesse für das Zurechtfinden im Alltag nicht minder entscheidend sind als periodische und deshalb – gestützt durch ein fundiertes theoretisches Modell – gründlich erforscht werden sollten.
Bisherige Modelle basieren auf der Annahme unterschiedlicher Mechanismen für periodische und aperiodische Vorhersagen: Zum einen Stimulus-gesteuert, das heißt durch Oszillationen, welche durch ein Signal hervorgerufen werden, zum anderen einen von unserem Gedächtnis geleiteten Mechanismus. Dagegen zeigt die aktuelle Forschung, dass neuronale Oszillationen im Gehirn von übergeordneten Verarbeitungsstufen beeinflusst werden, die auch aperiodische Prozesse einschließen. Dabei sind mehrere Hirnareale zugleich aktiv.
„Es ist wahrscheinlich, dass ein einheitlicher Mechanismus stattfindet, der auf neuronalen Oszillationen basiert, aber nicht rein Stimulus-gesteuert ist“, erklärt Hauptautorin Johanna Rimmele vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik.
„Oszillationen scheinen für die Prozesse der neuronalen Verarbeitung nach wie vor eine zentrale Rolle zu spielen – umfassend erklärt werden können zeitliche Vorhersagen aber nur durch eine komplexere Betrachtung mehrerer miteinander korrespondierender Hirnareale“, führt die Neurowissenschaftlerin weiter aus.
Der Leitartikel schließt mit offenen Fragen nach möglichen Forschungsansätzen, die auf das Modell aufbauen. Das Ziel müsse sein, die neuen Erkenntnisse auf theoretischer Ebene weiter zu verfeinern und experimentell zu untermauern.
Dr. Johanna M. Rimmele
Tel.: +49 69 8300 479 323
johanna.rimmele@ae.mpg.de
Rimmele, J. M., Morillon, B., Poeppel, D., & Arnal, L. H. (2018). Proactive sensing of periodic and aperiodic auditory patterns. Trends in Cognitive Sciences. https://doi.org/10.1016/j.tics.2018.08.003
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