Es wird eng: Wie Krebszellen aus Tumoren flüchten

Die Verformung des Zellkerns löst eine Signalkaskade für das Entkommen von Krebszellen aus
Wojciech Garncarz (St. Anna Kinderkrebsforschung)

Körperzellen versuchen zu entkommen, wenn sie in dichtem Gedränge vieler Zellen „eingekesselt“ werden. Ein Wissenschaftler der St. Anna Kinderkrebsforschung hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen entdeckt, dass der Zellkern eine Art „Fluchtreflex“ auslöst, um die Zelle zu befreien. Dieser Reflex wird aktiviert, sobald der von außen ausgeübte Druck den Zellkern zu sehr komprimiert. Diese neue Erkenntnis könnte dazu beitragen, die metastatische Ausbreitung von Tumoren und das Ansprechen auf die Behandlung vorherzusagen. Diese neuen Forschungsergebnisse wurden im weltweit renommierten Fachjournal Science veröffentlicht.

Wie der Mensch, so schützen auch die Zellen im menschlichen Körper ihren persönlichen Raum. Sie scheinen zu wissen, wie viel Platz sie brauchen. Wird es zu eng, versuchen die meisten Zellen, sich mehr Raum zu verschaffen. An dem Mechanismus, der es Zellen ermöglicht dichtem Gedränge zu entgehen, dürfte ein bisher unerkannter Akteur beteiligt sein – der Zellkern. Das haben Forscherinnen und Forscher der St. Anna Kinderkrebsforschung Wien, des King’s College London, des Institute Curie Paris und der ETH Zürich Basel in ihrer aktuellen Arbeit gezeigt (Hier geht es zur Publikation).

Körperzellen schützen ihren „persönlichen Raum“

Der menschliche Körper besteht aus Billionen von Zellen, die in begrenztem Raum wachsen, was häufig zu einer Zellverdichtung führt. Diese Verdichtung spitzt sich zu, wenn Zellwachstum und -proliferation während der Tumorbildung außer Kontrolle geraten. Dadurch sind die beteiligten Zellen Druckbelastungen aus ihrer Mikroumgebung ausgesetzt. Aber wie kommen Tumorzellen mit dem Platzmangel und den Druckbelastungen zurecht? Bei der Beantwortung dieser Frage stellten die Forscherinnen und Forscher fest, dass Zellen in der Lage sind, die Kompression der Umgebung wahrzunehmen.

Um das zu bewerkstelligen nutzen Zellen ihre größte und rigideste Untereinheit, den Zellkern. Wenn Zellen so stark zusammengedrückt werden, dass der Kern physisch deformiert wird, entfalten sich die Kernmembranen und dehnen sich aus. Diese Veränderungen werden von spezialisierten Proteinen erkannt und aktivieren die zelluläre Kontraktion. Diese Fähigkeit, kontraktile Kräfte zu entwickeln, hilft der Zelle, sich in einem „Fluchtreflex“-Mechanismus aus ihrer komprimierenden Mikroumgebung herauszudrücken. Daher schlussfolgert das Forscherteam, dass der Zellkern als Messregler fungiert (siehe Abbildung). Er ermöglicht es lebenden Zellen, ihren persönlichen Raum zu messen und spezifische Reaktionen auszulösen, sobald ihr persönlicher Raum über ein bestimmtes Maß eingeschränkt wird.

Fettarme Kost, um Schwächen im Krebs-Stoffwechsel anzugreifen?

Wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Arbeit beschreiben, ist die Ca2+-abhängige Phospholipase cPLA2 ein Protein, das die Dehnung der Kernmembran bei Kompression der Zelle wahrnimmt. Erstautor Dr. Alexis Lomakin betont, dass cPLA2 ein mit Medikamenten angreifbares Ziel darstellt. „Pharmazeutische Unternehmen testen derzeit niedermolekulare Inhibitoren von cPLA2. Basierend auf unseren Daten könnte die Herunterregulierung der cPLA2-Aktivität in Tumorzellen deren Fähigkeit beeinträchtigen, dem Primärtumor zu entkommen und an entfernte Stellen zu metastasieren“, erklärt Lomakin.

cPLA2-Inhibitoren verhindern die Produktion von Arachidonsäure (ARA), was sich in der Folge auf die Zellwanderung, das Wachstum und das Überleben der Zellen auswirkt. Zellen können ARA jedoch auch aus ihrer Umgebung gewinnen. Die westliche Ernährung ist zum Beispiel eine potente Quelle für Omega-6-Fettsäuren wie ARA. Die Einschränkung der Fettzufuhr über die Nahrung und die Aufnahme von Omega-3- anstelle von Omega-6-Fettsäuren könnte mit cPLA2-Inhibitoren synergistisch wirken, um das Entkommen von Tumorzellen aus überfüllten Gebieten einzuschränken. „Die Prüfung dieser Hypothese ist eine sehr spannende Aufgabe in unserer zukünftigen Forschung“, resümiert Lomakin.

Potenzieller prädiktiver Marker für Chemo-Resistenz

Überraschend war es, den Zellkern als einen aktiven Akteur zu identifizieren, der mechanische Einflüsse von außen schnell in biochemische Signale oder Stoffwechselleistungen übersetzt. Bisher wurde der Zellkern als passiver Speicher für genetisches Material betrachtet. „Wir sind sehr gespannt, was als nächstes kommt“, sagt. Lomakin. Seiner Meinung nach könnte die Messung starker Kerndeformationen das Metastasierungspotenzial und die Resistenz gegen Chemo- und Immuntherapie vorhersagen.

„Über viele Jahre hinweg haben Pathologinnen und Pathologen die Veränderungen der Zellkernform untersucht, um zwischen verschiedenen Stadien des Tumorwachstums zu unterscheiden. Wie sich die strukturell-mechanischen Veränderungen des Zellkerns funktionell auf Krebszellen auswirken, blieb jedoch völlig unerforscht“, sagt Lomakin.

Publikation

The nucleus acts as a ruler tailoring cell responses to spatial constraints
A. J. Lomakin*†‡, C. J. Cattin†, D. Cuvelier, Z. Alraies, M. Molina, G. P.
F. Nader, N. Srivastava, P. J. Saez, J. M. Garcia-Arcos, I. Y. Zhitnyak,A. Bhargava,
M. K. Driscoll, E. S. Welf, R. Fiolka, R. J. Petrie, N. S. De Silva, J. M. González-Granado, N. Manel, A. M. Lennon-Duménil, D. J. Müller*, M. Piel*‡

*Corresponding authors.
†These authors contributed equally to this work.
‡These authors contributed equally to this work.
Science, October 16, 2020
https://science.sciencemag.org/content/370/6514/eaba2894/tab-article-info

Förderung
Diese Forschungsarbeit wurde ermöglicht mithilfe des People Programms (Marie Skłodowska-Curie Actions) der Europäischen Union (7. Rahmenprogramm), sowie durch Marie Skłodowska-Curie Individual Fellowships und durch ein European Molecular Biology Organisation (EMBO) Long-Term Fellowship. Weiters wurde die Studie unterstützt durch ein PRESTIGE Program (koordiniert von Campus France), ein Marie Curie and PRESTIGE Fellowship, das Institut Pierre-Gilles de Gennes-IPGG, das Institut National du Cancer und durch INSERM Plan Cancer Single Cell. Weitere Unterstützung erfolgte durch ein London Law Trust Medal Fellowship. Darüber hinaus wurde ein Career Grant for Incoming International Talent von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) zur Verfügung gestellt. Die Studie erhielt zudem eine Förderung des National Center of Competence in Research (NCCR) Molecular Systems Engineering, des National Institute of General Medical Sciences, des National Institutes of Health und durch das I3 SNS Program. Weitere Unterstützung erfolgte durch das Instituto de Salud Carlos III (ISCIII) und durch ein Metchnikov Fellowship des Franco-Russian Scientific Cooperation Programms sowie der Russian Science Foundation.

Über Dr. Alexis Lomakin, (PhD)
Dr. Alexis Lomakin, (PhD), ist Programmleiter & stellvertretender Laborleiter in der Forschungsgruppe von Assoc.-Prof. Dr. Kaan Boztug, (MD), an der St. Anna Kinderkrebsforschung / Children’s Cancer Research Institute (CCRI) in Partnerschaft mit dem Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases / LBI-RUD, dem CeMM Forschungsinstitut für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Medizinischen Universität Wien (Wien, Österreich). Bevor Lomakin die Stelle in Wien antrat, war er Junior Group Leader am King’s College London (London, Großbritannien) und Staff Scientist am Institut Curie (Paris, Frankreich). Er promovierte in Zell- und Molekularbiologie an der Lomonosov Moscow State University (Moskau, Russland) und an der University of Connecticut (Farmington, CT, USA). Seine Postdoc-Ausbildung in quantitativer Zellbiologie setzte Lomakin an der Harvard-Universität (Boston, MA, USA) fort.

Der Wissenschaftler erhielt renommierte Stipendien und Auszeichnungen, darunter ein London Law Trust/LLT medal and fellowship for scientific excellence, innovation & vision (Großbritannien), ein Marie Skłodowska-Curie und PRESTIGE Fellowships (EU/Frankreich) und ein Leukemia & Lymphoma Society/LLS Postdoctoral Fellowship (USA).

Über das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases
Das Ludwig Boltzmann Institute for Rare and Undiagnosed Diseases (LBI-RUD) wurde von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft im April 2016 in Zusammenarbeit mit dem CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, der Medizinischen Universität Wien und der St. Anna Kinderkrebsforschung gegründet. Die drei Partnerinstitutionen stellen gemeinsam mit dem CeRUD die wichtigsten Kooperationspartner des LBI-RUD dar, dessen Forschungsschwerpunkt auf der Entschlüsselung von seltenen Erkrankungen des Immunsystems, der Blutbildung, und des Nervensystems liegt – diese Arbeiten bilden nicht nur die Basis für die Entwicklung von personalisierten Therapieansätzen für die unmittelbar Betroffenen, sondern liefern darüber hinaus einzigartige und neue Einblicke in die Humanbiologie. Das Ziel des LBI-RUD ist es, unter Einbeziehung der Expertise seiner Partnerorganisationen ein koordiniertes Forschungsprogramm zu etablieren, das neben den wissenschaftlichen auch gesellschaftliche, ethische und ökonomische Gesichtspunkte seltener Erkrankungen einbezieht und berücksichtigt.

Weitere Informationen: https://www.rarediseases.at

Originalpublikation:

The nucleus acts as a ruler tailoring cell responses to spatial constraints
A. J. Lomakin*†‡, C. J. Cattin†, D. Cuvelier, Z. Alraies, M. Molina, G. P.
F. Nader, N. Srivastava, P. J. Saez, J. M. Garcia-Arcos, I. Y. Zhitnyak,A. Bhargava,
M. K. Driscoll, E. S. Welf, R. Fiolka, R. J. Petrie, N. S. De Silva, J. M. González-Granado, N. Manel, A. M. Lennon-Duménil, D. J. Müller*, M. Piel*‡
Science, October 16, 2020
https://science.sciencemag.org/content/370/6514/eaba2894/tab-article-info
https://doi.org/10.1126/science.aba2894

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