Fortschritte bei der Autoimmunenzephalitis: spezifische Diagnose, sequenzielle Therapie und Netflix
Der Experte für immunvermittelte Erkrankungen des ZNS präsentierte heute beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) aktuelle Forschungsarbeiten zur Autoimmunenzephalitis.
Christian Bien verwies auf die sehr hilfreichen 2016 publizierten internationalen klinischen Diagnosekriterien und warnte gleichzeitig davor, Antikörperbefunde überzuinterpretieren.
„Für eine treffsichere Diagnose müssen Labor und Klinik immer zusammenpassen“, betont der Neurologe. Die DGN tagt noch bis 3. November im Rahmen der Neurowoche 2018 in der Messe Berlin.
Filmreif: Autoantikörper „entzünden ein Feuer im Kopf“
Autoimmunenzephalitiden betreffen jährlich etwa eine von 100.000 Personen. Sie werden durch Antikörper der Immunglobulin-Klasse G (IgG) verursacht. Sind sie im gesunden Organismus an der Abwehr von Infektionen beteiligt, richten sie sich bei der Autoimmunenzephalitis gegen hirneigene Zellen, die sie in ihrer Funktion stören oder sogar zerstören.
„Als häufigste Auslöser einer Antikörper-vermittelten Gehirnentzündung wurden Immunglobuline gegen NMDA-Rezeptoren und das sogenannte Leucin-rich glioma inactivated protein 1 (LGI1) identifiziert“, berichtet Christian Bien. NMDA-Rezeptoren sind Empfangsstationen für erregende Reize auf Nervenzellen. LGI1 verbindet Nervenzellen und lässt sie erfolgreich funktionell zusammenwirken.
Die Limbische Enzephalitis mit LGI1-Antikörpern äußert sich mit Anfällen und Gedächtnisstörungen.
Die Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis kann mit Anfällen, psychotischem Verhalten, Bewegungsstörungen und intensivpflichtigen Störungen des vegetativen Nervensystems in Erscheinung treten. Wie unklar die Klinik und wie schwierig die Diagnosefindung sein können, beschreibt der vor wenigen Wochen vom Streamingdienst Netflix veröffentlichte Spielfilm „Feuer im Kopf“. Die auf einem echten Fall basierende Geschichte beschreibt den Leidensweg einer von Anfällen, Amnesie und Psychose geplagten jungen Frau.
Internationale Standards zur Beurteilung von Laborbefunden
Der entscheidende diagnostische Schritt bei immunvermittelten Erkrankungen der grauen ZNS-Substanz ist laut Leitlinie der DGN die Autoantikörperdiagnostik. „Ein Schwerpunkt der gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskussion betrifft die Spezifität, also die Treffsicherheit der Antikörperdiagnosen“, berichtet Bien.
„Manche Antikörper sind nur diagnostisch relevant, wenn sie eine hinreichend hohe Konzentration im Blut aufweisen oder wenn sie im Nervenwasser und nicht nur im Blut nachgewiesen werden können.“ In der jüngeren Vergangenheit seien – möglicherweise in der Euphorie über die Behandlungserfolge – Laborbefunde überinterpretiert und Patienten mit anderen Erkrankungen ungemessenen, eingreifenden und für sie unwirksamen immunologischen Therapien unterzogen worden. „Fehldiagnosen und Übertherapien können Neurologen vermeiden, wenn sie kritisch prüfen, ob ein gefundener Antikörper zum Krankheitsbild des Patienten passt“, rät Bien.
„Zur Diagnose von Autoimmunenzephalitiden wurden internationale Standards formuliert.“ Idealerweise sollten Antikörperbefunde vom Labor nicht nur berichtet, sondern auch hinsichtlich ihrer mutmaßlichen Relevanz im betreffenden Einzelfall bewertet werden, so der Neurologe weiter.
Immunsuppressives Behandlungsschema etabliert
Die Prognose der Autoimmunenzephalitis sei überwiegend gut, berichtet Bien. Für die Behandlung hat sich ein Schema aus Erstlinientherapien (Kortison, intravenöse Immunglobuline, auf Antikörper gerichtete „Blutwäschen“) und, wenn dies nicht ausreicht, Zweitlinientherapien (Rituximab, Cyclophosphamid) etabliert. „Ein solches sequenzielles Vorgehen stellt mehr als 70 Prozent der Betroffenen innerhalb von Wochen bis Monaten weitgehend oder völlig wieder her“, so Bien.
Mögliche Folgeerkrankung einer Herpes-Enzephalitis
Bedeutende Fortschritte wurden auch bezüglich der Ursachenaufklärung von Autoimmunenzephalitiden erzielt. Autoimmunenzephalitiden entstehen nicht nur ohne erkennbare Ursache oder – wie seit Langem bekannt – als Folge einer fehlgeleiteten Immunantwort auf Keimblatttumore, sondern auch als autoimmune Folgeerkrankung nach einer überstandenen Enzephalitis durch Herpes-Viren. Zudem können moderne hochwirksame Krebstherapien mit Checkpoint-Inhibitoren, die die Immunantwort auf Tumore enthemmen (für sie wurde soeben der Medizin-Nobelpreis vergeben), Autoimmunenzephalitiden nach sich ziehen. Anti-LGI1-Enzephalitiden wiederum treten bei genetisch prädisponierten Menschen gehäuft auf.
„Neurologische Erkrankungen werden zur entscheidenden gesundheitlichen Herausforderung unserer Gesellschaft. Sie zu verhüten und zu behandeln ist die große Aufgabe der Neurologie“, sagt Bien. Zwar stehe die Medizin in vielen Bereichen trotz jahrzehntelanger Forschung vor großen, noch immer ungelösten Rätseln. Die Autoimmunenzephalitis sei aus Sicht der Neurowissenschaft jedoch ein Glücksfall. „Erkrankungen, die in ihren Mechanismen verständlich und damit erfolgreich therapierbar sind, können Modellcharakter für die Aufklärung noch unverstandener Störungen haben“, so der Arzt und Forscher.
Literatur
Armangue T, Spatola M, Vlagea A et al. (2018) Frequency, symptoms, risk factors, and outcomes of autoimmune encephalitis after herpes simplex encephalitis: a prospective observational study and retrospective analysis. Lancet Neurol 17:760-772
Bien CG (2018) Overinterpretation and Overtreatment of Low-Titer Antibodies Against Contactin-Associated Protein-2. Front Immunol 9:703
Dubey D, Pittock SJ, Kelly CR et al. (2018) Autoimmune encephalitis epidemiology and a comparison to infectious encephalitis. Ann Neurol 83:166-177
Graus F, Titulaer MJ, Balu R et al. (2016) A clinical approach to diagnosis of autoimmune encephalitis. Lancet Neurol 15:391-404
Mueller SH, Farber A, Pruss H et al. (2018) Genetic predisposition in anti-LGI1 and anti-NMDA receptor encephalitis. Ann Neurol 83:863-869
Shah S, Dunn-Pirio A, Luedke M et al. (2018) Nivolumab-Induced Autoimmune Encephalitis in Two Patients with Lung Adenocarcinoma. Case Rep Neurol Med 2018:2548528
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Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
sieht sich als neurologische Fachgesellschaft in der gesellschaftlichen Verantwortung, mit ihren über 9000 Mitgliedern die neurologische Krankenversorgung in Deutschland zu sichern. Dafür fördert die DGN Wissenschaft und Forschung sowie Lehre, Fort- und Weiterbildung in der Neurologie. Sie beteiligt sich an der gesundheitspolitischen Diskussion. Die DGN wurde im Jahr 1907 in Dresden gegründet. Sitz der Geschäftsstelle ist Berlin. www.dgn.org
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Stellvertretende Präsidentin: Prof. Dr. med. Christine Klein
Past-Präsident: Prof. Dr. med. Ralf Gold
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