Infektionen bei sehr kleinen Frühgeborenen fast immer lebensbedrohlich
Dass Herz, Lunge und alle anderen Organe eigentlich noch gar nicht auf das Leben außerhalb der Gebärmutter vorbereitet sind, erschwert den Kindern das Überleben. Bei einer drohenden Frühgeburt schöpfen deshalb Geburtsmediziner alle Möglichkeiten aus, die Schwangerschaft zu verlängern, so Prof. Klaus Friese, München, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Nicht immer sind sie dabei erfolgreich.
Die ideale Zeit für die Dauer einer Schwangerschaft sind 40 Wochen. Ein Kind, das vor Beendigung der 36. Woche geboren wird, ist ein „Frühgeborenes“, Kinder, die weniger als 1.500 Gramm wiegen und meist vor Beendigung der 32. Woche geboren werden sind, werden als „sehr kleine Frühgeborene“ bezeichnet, und solche, die weniger wiegen als 1000 Gramm als „extrem kleine Frühgeborene“.
Neugeborene, die vor der Beendigung von 22 Schwangerschaftswochen zur Welt kommen, haben so gut wie keine Überlebenschance – Erfolgsmeldungen aus einzelnen Kliniken ändern an dieser Tatsache nichts. Kann die Schwangerschaft bis zum Ende der 24. Woche erhalten bleiben, so liegt heute in Deutschland die Überlebenschance bei etwa 50%, auch wenn bei 20 bis 30% der Kinder Spätschäden zurückbleiben. Um diesen Kindern eine Chance zu erkämpfen, werden sie in hoch spezialisierten Frühgeborenen-Abteilungen heute mit einem immensen menschlichen und technologischen Engagement und oft erstaunlichen Erfolgen versorgt und in ihr Leben hineingeführt. Ohne Intensiv-Neugeborenenmedizin würde keines dieser Kinder überleben.
Nach 22 Wochen kein ausgereiftes Immunsystem
Das Immunsystem eines Feten funktioniert völlig anders als das eines Erwachsenen: Es ist darauf hin ausgerichtet, fremde Zellen zu erkennen, sie dann aber zu tolerieren. Hätte das embryonale Immunsystem diese Eigenschaft nicht, würde es die Zellen der Mutter als fremd erkennen und abstoßen und vielleicht auch die Zellen der eigenen, sich neu entwickelnden Organe. Erst im letzten Drittel der Schwangerschaft beginnt das Immunsystem des Kindes umzulernen; bis dahin sind die Zellen, die Proteine des Immunsystems produzieren, noch nicht voll entwickelt. Die Abwehr von Krankheitserregern ist während der Schwangerschaft überwiegend eine Aufgabe des mütterlichen Immunsystems.
Deshalb kann für Babys, die deutlich zu früh geboren werden, jeder für normalerweise harmlose Keim ein lebensbedrohliches Risiko darstellen, betont Prof. Friese. Frühgeborenen-Stationen sind aus diesem Grund mit zahlreichen Schutzvorrichtungen gegen Infektionen versehen. Aber da jeder erwachsene Mensch Träger von Millionen Keimen ist, lässt sich für die Frühgeborenen die Infektionsgefahr niemals völlig ausschließen, zumal bei diesen kleinen Kindern die natürlichen Barrieren wie Haut und Schleimhaut ebenfalls noch nicht ausgereift sind.
Bakterien sind schneller als die Forschung
Die Anpassungsfähigkeit von Bakterien an feindliche Lebenswelten ist überraschend. Immer wieder werden neue Antibiotika entwickelt, von denen die Forschung annimmt, dass sie die Lernfähigkeit von Krankheitserregern dauerhaft überlisten. Und immer wieder gelingt es Bakterien, den Aufbau ihrer Zellwände, die Struktur ihrer Rezeptoren und Enzyme so zu verändern, dass diese neuen Antibiotika unwirksam werden, und diese Eigenschaften auf benachbarte Keime und auch auf die nächsten Generationen weiterzugeben. Deshalb ist der einzige Schutz gegen solche multiresistenten Keime eine gut funktionierende Immunabwehr des infizierten Patienten. Ist die Immunabwehr durch eine Erkrankung zusammengebrochen, oder ist sie bei Frühgeborenen noch überhaupt nicht vorhanden, so führt die Infektion unweigerlich zu einer dauerhaften Erkrankung und letztlich zum Tod.
Schwangerschaft verlängern
Deshalb erhöht jeder einzelne Tag, der in einer Schwangerschaft gewonnen werden kann, die Chancen für das Baby, wie Prof. Friese betont. Zu den Maßnahmen, um eine Schwangerschaft zu verlängern, gehören
– Vorbeugung von Infektionen der Schwangeren, um einen vorzeitigen Blasensprung und vorzeitige Wehen zu verhindern
– körperliche und psychische Entlastung der Schwangeren am Arbeitsplatz, in Familie und Partnerschaft
– frühzeitige Entdeckung und sorgfältige Behandlung von Erkrankungen der Schwangeren
– strenge Bettruhe und gegebenenfalls ein Verschluss des Muttermunds durch die Geburtsmediziner, wenn sich die Anzeichen für eine bevorstehende Frühgeburt mehren
– Aufnahme der Schwangeren in einem Perinatalzentrum Level 1 mit ausreichender Erfahrung in der Behandlung sehr kleiner Frühgeborener, damit das Neugeborene nach der Geburt sofort von speziell ausgebildeten Neugeborenen-Ärztinnen und –Ärzten betreut werden kann ohne Transport in eine andere Klinik.
Vorzeitige Wehen setzen ein, wenn die Schwangerschaft aus dem Gleichgewicht geraten ist. Eine Erkrankung der Mutter oder des Kindes und/oder Funktionsstörungen in Gebärmutter und Placenta gehen einer solchen Entwicklung voraus: In einer gesunden, komplikationslosen Schwangerschaft kommt es nicht zu vorzeitigen Geburtsbestrebungen.
Wenn eine regelmäßige Wehentätigkeit eingesetzt hat, lässt sich auch durch eine medikamentöse Wehenhemmung die Geburt – wenn überhaupt – nur noch um wenige Tage verzögern. Diese Zeit wird genutzt, um eine Behandlung zur Reifung der kindlichen Lunge durchführen.
Mit erheblichem Aufwand versuchen spezialisierte Neugeborenen-Ärztinnen und –Ärzte zusammen mit den Eltern und dem ganzen Team der Frühgeborenen-Abteilung nach einer verfrühten Entbindung, sich der Entscheidung der Natur entgegenzustemmen und das Frühgeborene in ein gesundes Leben hineinzuführen. Aber Infektionen und Organversagen sind trotz dieser Anstrengungen, die in Deutschland internationales Spitzenniveau haben, nicht immer zu verhindern. Todesfälle von Frühgeborenen, die auf Infektionen mit einem normalerweise ungefährlichen, Antibiotika-resistenten Keim zurückzuführen sind, werden deshalb auch in Zukunft trotz größter Anstrengungen in der Schwangerenbetreuung, der Geburts- und der Neugeborenenmedizin immer wieder vorkommen.
Diese Fälle sollten immer kritisch beleuchtet und diskutiert werden, und wenn sie zeigen, dass Abläufe optimiert und der Schutz der Frühgeborenen noch weiter verstärkt werden kann, dann ist das hilfreich. Aber diese Diskussionen sollten besonnen und sachlich geführt werden. „Frühgeborenenmedizin ist eine Medizin an der Grenze des Lebens“, so Prof. Friese, „und das zeigt sich immer wieder an unterschiedlichen Standorten in Deutschland wie auch international.“
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