Schwer behandelbare Depression: Früh erkennen, ob Ketamin hilft
Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation leiden in Deutschland mehr als vier Millionen Menschen unter einer Depression. Bei etwa einem Drittel der Betroffenen schlägt die Standardtherapie nur unzureichend, bei einem weiteren Drittel gar nicht an. Die Ursache dafür wird in individuellen Unterschieden des Gehirnstoffwechsels vermutet.
Gerade bei schweren Depressionen und im Fall akuter Selbstmordgefahr ist aber schnelle Hilfe notwendig. Diese könnte das Medikament Ketamin bringen, das seit kurzem als Antidepressivum zugelassen ist.
Der ursprünglich für Narkosen entwickelte Wirkstoff greift biochemisch in die Informationsübertragung der Hirnzellen ein und kann damit auch die Lernfähigkeit des Gehirns verbessern.
Fenster für neue Erfahrungen öffnen
„Wir gehen davon aus, dass bei den sehr schweren Depressionen traumatische oder Angsterfahrungen so tief ins Gedächtnis eingebrannt sind, dass sie nicht so einfach verlernt werden können“, sagt Professor Martin Walter, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Jena. „Ketamin kann das therapeutische Fenster für neue, positive Erfahrungen öffnen und so zusammen mit anderen Therapieformen die lähmende Erinnerung überschreiben helfen.
Gerade bei suizidalen Patienten bedarf es außerdem schneller Linderung, die bisherige Medikamente meist nicht erbringen.“ Jedoch spricht nur etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten mit einer schwer behandelbaren Depression auf Ketamin an, auch kann es zu Nebenwirkungen wie einem erhöhten Blutdruck oder vorübergehenden psychose-artigen Symptomen kommen.
Um den Nutzen und die Risiken des Medikaments individualisiert abwägen zu können, startet der Jenaer Psychiater jetzt gemeinsam mit Wissenschaftlern in Mannheim, Tübingen, Turku in Finnland und dem französischen Straßburg ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, einen Biomarker für das Ansprechen der Therapie mit Ketamin zu etablieren.
In einer klinischen Studie mit 100 Patienten, die an einer schwer behandelbaren Depression leiden, und parallel dazu im Tiermodell untersuchen die Wissenschaftler Stoffwechselparameter im Blut und im Gehirn sowie MRT-Bilddaten zur Netzwerkaktivität im Gehirn.
Diese Parameter werden vor bzw. einen und 22 Tage nach Beginn der Ketamintherapie erfasst und mit dem Verlauf der Behandlung korreliert. So soll ein multimodaler Marker entstehen, der anzeigt, ob ein Patient von der Therapie mit Ketamin profitieren wird. Das jetzt startende Projekt ist auf drei Jahre angelegt und wird von der EU und dem BMBF im Rahmen des NEURON-Netzwerkes mit 800.000 Euro gefördert.
Je die Hälfte der Studienpatienten sollen an den Universitätskliniken in Jena und Tübingen betreut werden. Neben der Koordination des Verbundes und der Datenauswertung liegen bei den Jenaer Partnern auch die Erarbeitung der Messprotokolle für die MRT-Messungen und deren Durchführung. Dabei wird die funktionelle Netzwerkaktivität des Gehirns erfasst und in einer magnetresonanzspektroskopischen Messung auch die Konzentration des Botenstoffs Glutamat im Gehirn.
Parallel zur Studie nehmen Wissenschaftler am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und an der Universität Straßburg Blutproben, MRT-Untersuchungen und elektrophysiologische Messungen im Tiermodell vor. Die Auswertung aller Blutproben übernehmen die Wissenschaftler des Turku Bioscience Centre.
Nutzen und Risiken individuell abwägen
Bisherige Untersuchungen belegen den Einfluss von Ketamin auf die einzelnen betrachteten Signalwege und Stoffwechselprodukte, auch werden Veränderungen dieser Hirnbotenstoffe und der Netzwerkkommunikation im Gehirn mit Depression in Zusammenhang gebracht. Das Vorhaben führt diese Ansätze erstmals in einer prospektiven klinischen Studie und mit tierexperimentellen Untersuchungen zusammen.
„Wir nutzen modernste Verfahren der Proteomik und Neurobildgebung, um die physiologischen und molekularen Wirkungsmechanismen des Ketamins bei Depression besser zu verstehen. Anhand dessen wollen wir den oder die Parameter identifizieren, die als Biomarker helfen können, den individuellen Nutzen einer Ketamintherapie besser einzuschätzen“, so Prof. Walter.
In einer anschließenden konfirmatorischen Studie mit zwei Patientengruppen, die sich hinsichtlich des Biomarkers klar unterscheiden, müsste sich als nächster Schritt der Vorhersagewert des Markers bestätigen. Damit könnte das Verfahren zur Entscheidungsfindung dann in den klinischen Alltag eingeschlossen werden.
Prof. Dr. Martin Walter
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Jena
Tel.: 03641/9 39 01 01,
E-Mail: Martin.Walter@med.uni-jena.de
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