Adaptive Shutterbrille für Amblyopie bei Kindern

LCD-Shutterbrille für Kinder (ohne Frontabdeckung des Gestells).
© Fraunhofer IBMT

Multimodale Sensorintelligenz ermöglicht ein digitales Therapiemonitoring.

Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT beteiligt an vorwettbewerblicher Entwicklung einer adaptiven Shutterbrille.

Amblyopie ist eine funktionale Sehschwäche eines Auges, die zumeist bei Kindern auftritt und die bislang durch Abdecken des gesunden Auges mit einem verdunkelnden Pflaster therapiert wird. Je früher die Behandlung erfolgt, desto besser stehen die Heilungschancen. Doch diese Art der Therapie zeigt nur dann Erfolge, wenn die verordnete Tragezeit des Pflasters eingehalten wird. Dies ist oftmals nicht der Fall, da viele Kinder das Pflaster aus Scham nicht tragen. Ein weiterer Nachteil dieser Therapieform ist das eingeschränkte räumliche Sehen.

Der Bedarf an einer alternativen Therapieform ist daher hoch. Künftig soll eine elektronische Sehhilfe mit multimodaler Sensorintelligenz das gesunde Auge adaptiv verdunkeln und die Kinder beim korrekten Tragen unterstützen. Dank der neuen Technologie lässt sich die Okklusion des Auges so steuern, dass sie bei bewegungsintensiven Aktivitäten (z. B. Laufen, Springen, Fahrradfahren) unterbrochen werden kann, um Unfälle aufgrund eines fehlenden räumlichen Sehvermögens zu vermeiden.

Eine solche innovative Shutterbrille wurde im BMBF-Verbundprojekt »InsisT« in Form eines Demonstrators entwickelt. Für die Steuerung der Brille sorgen intelligente Algorithmen, die durch eine effiziente Verarbeitung der multimodalen Sensordaten erstmals ein kontinuierliches Therapiemonitoring ermöglichen. Die Sensordaten beinhalten Messwerte eines Beschleunigungssensors und von Körperkontaktsensoren. Die Algorithmen überwachen den Zustand der Trageposition, die Aktivität des Trägers und das konfigurierte Okklusionsmuster, um daraus die effektive Trage- und Okklusionsdauer zu berechnen. Abgeleitete Zustandsvariablen werden zum Zwecke der Protokollierung und späteren Analyse im Brillengestell gespeichert, so dass die Brille auch ein Datenlogger ist. Die Verdunkelung der LCD-Gläser erfolgt elektronisch. Der Verdunkelungseffekt entsteht durch das Ein- und Ausschalten der integrierten Flüssigkristalle. Der Takt der Okklusion lässt sich steuern und individuell anpassen, was ein wesentlicher Vorteil gegenüber der bisherigen Therapie mit Klebepflaster ist.

Expertise des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT

Wissenschaftler*innen des Fraunhofer-Instituts für Biomedizinische Technik IBMT leisteten die technische Entwicklung der Brillenelektronik, der Algorithmen sowie einer Smartphone-App, mit der die Eltern des erkrankten Kindes die Therapie überwachen können. Sämtliche Informationen werden in einer sicheren digitalen Patientenakte gesammelt, ebenfalls eine Entwicklung der IBMT-Wissenschaftler. Diese datenschutzkonforme Webanwendung ist für den Arzt zugänglich, der den Therapieverlauf kontrollieren, anpassen und optimieren kann. Er erfährt, ob und wie lange die Brille getragen wurde. Diese Transparenz fehlte bei der bisherigen Behandlungsmethode. Ziel dieses digitalen Therapiemanagementsystems ist es, erstmals eine individualisierte Therapie von Amblyopie bei Kindern möglich zu machen.

In einer Machbarkeitsstudie wurde die technische Leistungsfähigkeit dieser neuen Technologie zunächst an gesunden Kindern untersucht. Die durchschnittliche Übereinstimmung der richtig erkannten Zustände der Trageposition sowie der Aktivität lieferte gute Ergebnisse. Das Abnehmen der Brille wurde beispielsweise immer korrekt erkannt und die Okklusion wurde immer zuverlässig unterbrochen, wenn eine Aktivität mit intensiver Bewegung erkannt wurde. Das Gewicht liegt derzeit bei etwa 45 Gramm und soll weiter reduziert werden.

Aufgrund des adaptiven Shutterbetriebs und der integrierten Sensorintelligenz geht der realisierte Demonstrator weit über den Stand einfacher Shutterbrillen mit fest vorgegebenem Okklusionsmuster hinaus. Dieses innovative »Wearable« stellt die technologische Basis für eine individualisierte Therapie von Amblyopie bei Kindern mit kontinuierlichem Therapiemonitoring dar. Wir streben an, mit diesem neuen Therapieansatz die durchschnittliche Tragezeit im Vergleich zur derzeitigen Situation mindestens zu verdoppeln und durch die erhöhte Therapieadhärenz die Zahl der erfolgreichen Therapien deutlich zu erhöhen.

Das nach einer Laufzeit von drei Jahren erfolgreich abgeschlossene Verbundprojekt »InsisT« wurde unter der medizinischen Leitung der Augenklinik Sulzbach bearbeitet. Weitere Projektpartner waren die Novidion GmbH und die BEO MedConsulting Berlin GmbH. In die interdisziplinäre Entwicklung flossen die Kompetenzen des Fraunhofer IBMT im Bereich der Mikrosensorik, der drahtlosen Energie- und Datenübertragung sowie der Softwareentwicklung zum datenbasierten »Disease Management« mit integrierter Analysefunktionalität und Entscheidungsunterstützung ein. Nun gilt es den funktionalen Demonstrator mit Unterstützung weiterer Medizintechnikunternehmen weiterzuentwickeln. Basierend auf der neuen Technologie sind natürlich auch Anpassungen für andere Anwendungen umsetzbar.

»InsisT« wurde im Rahmen des Forschungsprogramms »Technik zum Menschen bringen« auf dem Gebiet »Interaktive körpernahe Medizintechnik« vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Ansprechpartner

Dr.-Ing. Frank Ihmig
Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT
Joseph-von-Fraunhofer-Weg 1
66280 Sulzbach/Saar
Telefon: 06897/9071-466
E-Mail: frank.ihmig@ibmt.fraunhofer.de

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr.-Ing. Frank Ihmig
Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT
Joseph-von-Fraunhofer-Weg 1
66280 Sulzbach/Saar
Telefon: 06897/9071-466
E-Mail: frank.ihmig@ibmt.fraunhofer.de

Weitere Informationen:

https://www.ibmt.fraunhofer.de

https://www.ibmt.fraunhofer.de/de/ibmt-presse-uebersicht-2022/presse-ibmt-shutterbrille-2022-03-28.html

Media Contact

Dipl.-Phys. Annette Maurer-von der Gathen Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik IBMT

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Medizintechnik

Kennzeichnend für die Entwicklung medizintechnischer Geräte, Produkte und technischer Verfahren ist ein hoher Forschungsaufwand innerhalb einer Vielzahl von medizinischen Fachrichtungen aus dem Bereich der Humanmedizin.

Der innovations-report bietet Ihnen interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Bildgebende Verfahren, Zell- und Gewebetechnik, Optische Techniken in der Medizin, Implantate, Orthopädische Hilfen, Geräte für Kliniken und Praxen, Dialysegeräte, Röntgen- und Strahlentherapiegeräte, Endoskopie, Ultraschall, Chirurgische Technik, und zahnärztliche Materialien.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Die Roboterhand lernt zu fühlen

Fraunhofer IWS kombiniert Konzepte aus der Natur mit Sensorik und 3D-Druck. Damit Ernteroboter, U-Boot-Greifer und autonome Rover auf fernen Planeten künftig universeller einsetzbar und selbstständiger werden, bringen Forschende des Fraunhofer-Instituts…

Regenschutz für Rotorblätter

Kleine Tropfen, große Wirkung: Regen kann auf Dauer die Oberflächen von Rotorblättern beschädigen, die Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit von Windenergieanlagen können sinken, vor allem auf See. Durch die Entwicklung innovativer Reparaturlösungen…

Materialforschung: Überraschung an der Korngrenze

Mithilfe modernster Mikroskopie- und Simulationstechniken konnte ein internationales Forschungsteam erstmals beobachten, wie gelöste Elemente neue Korngrenzphasen bilden. Mit modernsten Mikroskopie- und Simulationstechniken hat ein internationales Forscherteam systematisch beobachtet, wie Eisenatome…