Früherkennung der Sepsis durch Maschinelles Lernen

Maschinelles Lernen kann zur Früherkennung einer Sepsis beitragen, wenn das klinische Vorhersageziel und die Diagnose in der Praxis übereinstimmen.
(c) UMM

Verbundprojekt SCIDATOS zeigt, dass klinische „Ground Truth“ einen Goldstandard für die Sepsis-Diagnose darstellen kann.

Sepsis ist ein lebensbedrohlicher Zustand und eine der häufigsten Todesursachen auf Intensivstationen. Bei einer Sepsis antwortet der Körper auf eine meist durch Bakterien verursachte Infektion, indem er die eigenen Gewebe und Organe schädigt, bis hin zum Organversagen. Für das Überleben einer Sepsis ist es entscheidend, sie rechtzeitig zu erkennen und gezielt antimikrobiell zu behandeln. Hierfür bleibt meist nur ein Zeitfenster von wenigen Stunden.

Da es bislang keinen raschen und zuverlässigen diagnostischen Test für das heterogene Krankheitsbild der Sepsis gibt, hängt die Entscheidung über die zeitkritische Therapie mit einem Antibiotikum nach wie vor wesentlich von der ärztlichen Einschätzung im Einzelfall ab. Einem prophylaktischen Einsatz von Antibiotika steht das Risiko von Antibiotikaresistenzen entgegen, die ebenfalls viele Todesopfer fordern – allein in Europa jährlich etwa 35.000.

Der Wunsch nach einer verlässlichen Früherkennung der Sepsis sowie die heutige Verfügbarkeit engmaschig erhobener elektronischer Versorgungs- und Überwachungsdaten von der Intensivstation befeuern derzeit die Entwicklung von Modellen für die individuelle Früherkennung der Sepsis mithilfe moderner Methoden des Maschinellen Lernens.

Diese Maschinenlernmodelle, sogenannte ML-Modelle, sollen die ärztliche Entscheidung über eine zeitnahe und zielgerichtete Antibiotikatherapie unterstützen. Das akute Überleben soll damit verbessert und das Risiko für die Entstehung von Antibiotikaresistenzen reduziert werden. Von interpretierbaren ML-Modellen wird außerdem erwartet, dass sie das Verständnis darüber, wie eine Sepsis entsteht, verbessern, indem sie neue Zusammenhänge in Patientendaten sichtbar machen. Sie sollen damit dazu beitragen, neue diagnostische Tests und Therapien entwickeln zu können.

Dieses Ziel verfolgt auch das durch die Klaus Tschira Stiftung (KTS) geförderte Verbundprojekt der Universitätsmedizin Mannheim (UMM) und des Interdisziplinären Zentrums für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Universität Heidelberg, Scientific Computing for the Improved Diagnosis and Therapy of Sepsis (SCIDATOS). „Bislang steht der Nachweis eines klinischen Nutzens von ML-Modellen für die Diagnose und Behandlung der Sepsis leider noch aus“, bemerkt Professor Dr. Manfred Thiel, Verbund-Koordinator an der UMM, kritisch.

Die SCIDATOS-Verbundpartner haben nun eine Schwachstelle identifiziert, die sie als Hauptursache dafür ansehen, dass ML-Modelle bislang nicht in der Lage sind, eine Sepsis sicher zu diagnostizieren. Der Knackpunkt ist die Definition des Vorhersageziels, auf das das ML-Modell trainiert wird. In der bisher gängigen Praxis wird das Lernziel indirekt durch die automatisierte Abfrage klinischer Kriterien aus der Patientenakte definiert. Da ML-Modelle nichts anderes vorhersagen als das, was sie vorherzusagen gelernt haben, rekonstruieren sie entsprechend genau diese Lernzieldefinition. Der Verbundpartner Professor Dr. Stefan Riezler vom IWR beschreibt dies als Zirkularität.

Zur Überprüfung dieser Schwachstelle haben die Projektpartner zusammen mit den Oberärzten der Operativen Intensivstation an der UMM eine elektronische Fragebogenerhebung initiiert. Darin wird täglich für jeden Patienten eine strukturierte Zustandsbewertung hinsichtlich der Sepsis, die sogenannte klinische Ground Truth, erfasst. Mithilfe der Ergebnisse aus dem ersten Jahr dieser Ground Truth-Erhebung konnte der Verbund erstmalig zeigen, dass die gängige automatisierte Definition der Sepsis als Lernziel in der Patientenakte der klinischen Ground Truth in fast der Hälfte der Fälle hinterherhinkt oder die Sepsis nicht nachweisen kann. Diese Ergebnisse hat der Verbund SCIDATOS im Journal of Translational Medicine veröffentlicht.

In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift The Lancet Digital Health resümieren Erstautor PD Dr. Holger A. Lindner und Seniorautorin PD Dr. Dr. Verena Schneider-Lindner (beide UMM), dass klinische Ground Truth ein lebendiges Konzept darstellt: „Solange kein verlässliches Testverfahren als Goldstandard für die Sepsis-Diagnose zur Verfügung steht, muss das Lernziel für ML-unterstützte Diagnosemodelle der Sepsis auf Basis der Ground Truth stetig aktualisiert werden.“ ML-Verfahren können ihr Potenzial zur Verbesserung der Patientenversorgung nur dann voll entfalten, wenn ein klinisches Vorhersageziel und die jeweilige Diagnose in der Praxis nachweislich übereinstimmen.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

PD Dr. Holger A. Lindner
Universitätsmedizin Mannheim
Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg
Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin
Institute for Innate Immunoscience (MI3)
Theodor-Kutzer-Ufer 1-3
D-68167 Mannheim
E-Mail: Holger.Lindner@medma.uni-heidelberg.de

Originalpublikation:

Lindner HA, Thiel M, Schneider-Lindner V.
Clinical ground truth in machine learning for early sepsis diagnosis.
Lancet Digit Health. 2023;5(6):e338-e339
DOI: https://doi.org/10.1016/S2589-7500(23)00070-5

Lindner HA, Schamoni S, Kirschning T, Worm C, Hahn B, Centner FS, Schoettler JJ, Hagmann M, Krebs J, Mangold D, Nitsch S, Riezler S, Thiel M, Schneider-Lindner V.
Ground truth labels challenge the validity of sepsis consensus definitions in critical illness.
J Transl Med. 2022;20(1):27
DOI: https://doi.org/10.1186/s12967-022-03228-7

https://www.umm.uni-heidelberg.de/medien/pressemitteilungen/pressemitteilung/?tx_news_pi1%5BactbackPid%5D=9249&tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=1046&cHash=7b12878773f615e6681f6060a2596d72

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