Mehr Arten als bisher angenommen könnten vom Aussterben bedroht sein

Die wissenschaftliche Literatur erfasst nur einen kleinen Teil der Artenvielfalt. Insektenarten, v.a. solche in den artenreichen tropischen Regionen, sind wenig erforscht und werden in Statusberichten zur Biodiversität kaum berücksichtigt.
(c) Alexa Schmitz

Im Mittel 30 Prozent aller Arten weltweit sind in den letzten 500 Jahren vom Aussterben bedroht oder bereits ausgestorben. Dies ergaben Schätzungen von 3.331 Expertinnen und Experten, die sich mit der biologischen Vielfalt in 187 Ländern beschäftigen. Diese große und diverse Expertengruppe wurde im Rahmen einer Umfrage, geleitet von Forschenden der Universität Minnesota und unter Beteiligung von iDiv und Universität Leipzig, um ihre Einschätzungen zum Wandel der Biodiversität gebeten. Die Ergebnisse sollen Wissenslücken bestehender wissenschaftlicher Bewertungen verringern. Die Studie wurde in der Zeitschrift Frontiers in Ecology and the Environment veröffentlicht.

(PM basiert auf einer Medienmitteilung der Universität Minnesota)

Unser Ziel war es, bestehende Biodiversitätsassessments um wissenschaftlich wenig beachtete aber hochrelevante Artengruppen und Weltregionen zu bereichern“, sagt Erstautor Prof. Forest Isbell von der Universität Minnesota. Denn die wissenschaftliche Literatur zur biologischen Vielfalt konzentriert sich meist nur auf einige gut untersuchte Regionen oder Artengruppen. So hat die Weltnaturschutzunion (IUCN), die eine der wichtigsten Datenquellen für globale Biodiversitätsbewertungen darstellt, nur etwa ein Prozent der geschätzten Zahl der vom Aussterben bedrohten Arten erfasst. Nur 0,2 Prozent aller Insekten, die immerhin drei Viertel aller Tier- und Pflanzenarten ausmachen, werden von der IUCN einbezogen.

Auf dieser Wissensbasis schätzte der Globale Bericht des Weltbiodiversitätsrats (IPBES) im Jahr 2018 beispielsweise, dass etwa 10 Prozent der Insektenarten vom Aussterben bedroht sein könnten, wobei er sich weitgehend auf Schätzungen aus Europa stützte. Die neue Umfrage, die auch Hunderte von Insektenexperten und -expertinnen aus der ganzen Welt einbezieht, kommt hingegen zu einem gemittelten Anteil von 30 Prozent. „Dieser erhebliche Unterschied ergibt sich vor allem durch die Schätzungen für die am stärksten diversifizierten und am wenigsten untersuchten Arten“, sagt Isbell. Allerdings gehen die Schätzungen der befragten Expertinnen und Experten sehr weit auseinander. Die 30 Prozent bedrohter Arten sind ein gemittelter Wert aus Schätzungen zwischen 16 und 50 Prozent. „Auch wenn bei der begrenzten Informationslage noch nicht klar ist, welche Zahlen näher am wahren Wert liegen: Es wird deutlich, dass wir für ein vollständiges Bild der Lage die Meinung von Experten und Expertinnen für alle Artengruppe in jeder Region der Welt einholen müssen“, sagt Isbell.

Experten, die sich mit Süßwasserökosystemen, Amphibien, Säugetieren und Süßwasserpflanzen beschäftigen, schätzten den Verlust der biologischen Vielfalt am höchsten ein. Der größte Artenverlust bzw. die größte Bedrohung für Arten betrifft der Befragung zufolge tropische und subtropische Lebensräume wie Flüsse, Feuchtgebiete und Wälder.

„Mit unserer Studie wollten wir in der globalen Literatur unterrepräsentierten Experteninnen und Experten, die zu weniger bekannten Arten forschen, etwa aus dem globalen Süden, und vor allem Frauen eine Stimme geben“, sagt Mitautorin Patricia Balvanera von der Universität von Mexiko. Denn erfahrungsgemäß schätzten diese den Verlust der biologischen Vielfalt und dessen Auswirkungen deutlich gravierender ein. „Expertinnen untersuchen außerdem überproportional häufig genau jene Artgruppen, die als am stärksten bedroht gelten“. Die Studie macht zudem bedeutende demografische und geografische Unterschiede in den Perspektiven und Einschätzungen der Experten deutlich.

Die Autorinnen und Autoren ermutigen Biodiversitätsforschende weltweit, diese Ergebnisse zu nutzen, um ihre eigene Perspektive mit weiteren zu vergleichen. Bei der Festlegung globaler Ziele zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und bei der Ausarbeitung neuer politischer Maßnahmen müssten so viele Perspektiven wie möglich berücksichtigt werden.

„Die biologische Vielfalt hängt in hohem Maße von regionalen Bedingungen ab. Unser Ansatz, die Meinungen regionaler Expertinnen und Experten aus der ganzen Welt zusammenzubringen, ist bislang einzigartig“, sagt Mitautor Akira Mori von der Universität Tokio. „Ich glaube, dass wir in Puncto soziale und kulturelle Vielfalt und Einbindung, auch wenn diese nicht vollständig ist, einige Vorschläge für künftige internationale Politikdebatten vorgelegt haben.“

Die Experten kommen zu dem Schluss, dass eine deutliche Erhöhung der Investitionen und Bemühungen beim Artenschutz bis zum Jahr 2100 eine von drei bedrohten oder ausgestorbenen Arten vor dem Aussterben bewahren könnten. „Es müssen jedoch geeignete Schutzkonzepte entwickelt werden, die auf ein breiteres Spektrum von Organismen abzielen, um die Krise der biologischen Vielfalt zu bekämpfen“, sagt Mitautor Nico Eisenhauer, Professor bei iDiv und an der Universität Leipzig. „Jüngste Studien deuten beispielsweise darauf hin, dass mehrere aktuelle Naturschutzprogramme möglicherweise keine positiven Auswirkungen auf die biologische Vielfalt im Boden haben. Diese umfasst immerhin etwa ein Viertel aller Arten auf der Erde. Wir müssen dringend wissenschaftliche Fortschritte erzielen, um wirksamere Schutzmaßnahmen vorschlagen zu können“.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Forest Isbell
College of biological sciences
University of Minnesota
Tel.: +1-612-624-6731
E-Mail: isbell@umn.edu

Prof. Dr. Nico Eisenhauer
Leiter der Forschungsgruppe Experimentelle Interaktionsökologie
Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
Universität Leipzig
Tel.: +49 341 97 33167
E-Mail: nico.eisenhauer@idiv.de

Originalpublikation:

Isbell, F., …, Eisenhauer, N., …, Palmer, M. S. et al. (2022): Expert perspectives on global biodiversity loss and its drivers and impacts on people. Frontiers in Ecology and the Environment. https://doi.org/10.1002/fee.2536

Weitere Informationen:

http://www.idiv.de/

Video mit beteiligten Expertinnen und Experten

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