Überweidung kippt komplettes Ökosystem
Forschungsteam unter Kieler Leitung identifiziert mikrobiologischen Grenzwert.
Das tibetische Hochland hat eine besondere Bedeutung als Weideökosystem, als globaler Kohlenstoffspeicher, für die Entstehung des Monsuns und für die Trinkwasserversorgung eines Fünftels der Erdbevölkerung. Ein internationales Forschungsteam der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), der Universitäten Göttingen und Hannover und der Chinese Academy of Science hat nun erstmals auf mikrobiologischer Basis den kritischen Grenzwert der Beweidung in der zentralasiatischen Landschaft identifiziert, ab dem eine Degradation der Weiden unumkehrbar ist. Die Forschenden fanden heraus, dass kleinere Flächen bereits unwiederbringlich verloren sind, aber der Großteil des beweideten Gebietes noch gerettet werden könnte – wenn die Viehhaltung dort reduziert wird. Die Fachzeitschrift „Nature Communications“ hat die Forschungsergebnisse veröffentlicht.
Der auf dem Tibetplateau verbreitete Kobresiarasen ist seit Jahrhunderten an moderate Beweidung durch die Herden herumziehender Nomaden angepasst. Die toten und lebenden Wurzeln des Rasens schützen die darunterliegenden Permafrostböden vor Degradation, also dem schrittweisen Verlust ihrer Ökosystemfunktionen bis hin zur Erosion. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hat die Beweidung, vor allem in der Nähe von Siedlungen, zugenommen. Durch den Klimawandel, der die Permafrostböden tauen lässt, geraten die Kobresiarasen zusätzlich unter Druck.
Forschung auf 4.200 Metern Höhe
Die Forscherinnen und Forscher untersuchten die Böden verschiedener Standorte des Tibetplateaus, deren Weiden unterschiedlich stark degradiert waren. Sie bestimmten dafür jeweils die Kohlenstoff- und Stickstoffvorräte im Boden, die Zusammensetzung der mikrobiellen Bodengemeinschaft von Bakterien und Pilzen und die Aktivität der Bodenenzyme direkt im Feld. Ein Ergebnis: Die Kombination aus Überweidung und Klimawandel führt zu einem Rückgang der Kohlenstoffvorräte um 42 Prozent und der Stickstoffvorräte um 33 Prozent auf den am stärksten betroffenen Flächen. „Die Kohlenstoffverluste gehen zu zwei Drittel auf die Erosion des fruchtbaren Oberbodens und zu einem Drittel auf einen reduzierten Eintrag von Pflanzenbiomasse sowie eine erhöhte Mineralisation zurück“, sagt die Leiterin der Studie, Professorin Sandra Spielvogel vom Institut für Pflanzenernährung und Bodenkunde der CAU. „Mit zunehmender Degradation verändert sich die Zusammensetzung der Mikroorganismen im Boden stark. Zunächst bauen die Mikroorganismen im Boden vor allem leicht abbaubare Bestandteile der abgestorbenen Wurzeln ab, hierfür produzieren sie hydrolytische Enzyme. Erst wenn nicht mehr genug leicht abbaubares Material vorhanden ist, werden auch die stabilisierenden, verholzten Wurzelrückstände abgebaut. Diesen Wendepunkt erkennt man daran, dass nun abrupt oxidative Enzyme im System dominieren. Fehlt dann erst einmal die schützende Wurzeldecke, nimmt auch die Erosion deutlich zu, wodurch der verbleibende Oberboden komplett abgetragen wird“, erläutert die Bodenkundlerin weiter.
Entwicklungen sind noch aufzuhalten
Eine Überschreitung dieses identifizierten Grenzwertes der Beweidung verändert das komplette Ökosystem. Als „dritter Pol der Erde“, neben dem Nord- und dem Südpol hätte eine Freisetzung des im tibetischen Hochland gespeicherten Kohlenstoffs das Potenzial, den globalen CO2-Speicher zu beeinflussen. „Durch die Erosion des fruchtbaren Oberbodens liegt der Unterboden frei. Diese vegetationsfreie Erdoberfläche reflektiert die Sonnenstrahlen stärker, außerdem verändert sich die Verdunstung und dadurch der gesamte Wasserhaushalt des betroffenen Gebietes. Dies wiederum beeinflusst nachweislich die Wolkenbildung und weitere atmosphärische Eigenschaften über dem Tibetplateau“, fasst Spielvogel zusammen. „Ist der Boden so stark geschädigt, gibt es einen point of no return. Die Vegetationsperioden sind mit drei bis vier Monaten extrem kurz, in der Höhenlage würde eine Regeneration des so geschädigten Bodens Jahrhunderte dauern.“ Der einzige Weg, diese sich selbst verstärkenden Effekte zu umgehen sei, die Viehhaltung auf den betreffenden Weiden nahhaltig zu reduzieren, also weniger Vieh pro Hektar zu halten und die Flächen häufiger zu wechseln.
Die Forschung wurde im Rahmen des DFG Schwerpunktprogramms 1372: Tibetan Plateau: Formation – Climate – Ecosystems (TIP) durchgeführt.
Originalpublikation:
Andreas Breidenbach et al., Microbial functional changes mark irreversible course of Tibetan grassland degradation, Nature Communications, https://doi.org/10.1038/s41467-022-30047-7
Fotos stehen zum Download bereit:
http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2022/071-yark-with-mountains.JPG
Yark with mountains: Die Weideflächen in Tibet werden hauptsächlich für Yaks genutzt.
© Lena Becker, Leibniz Universität Hannover
http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2022/071-nicht-ueberweidetes-grasland.JPG
Nicht überweidetes Grasland: Weiden, die moderate durch die Herden herumziehender Nomaden genutzt werden.
© Lena Becker, Leibniz Universität Hannover
http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2022/071-ueberweidetes-grasland.JPG
Überweidetes Grasland: Intensive Beweidung, vor allem in der Nähe von Siedlungen führt zur Erosion des fruchtbaren Oberbodens.
© Lena Becker, Leibniz Universität Hannover
http://www.uni-kiel.de/de/pressemitteilungen/2022/071-spielvogel.jpg
Porträtfoto von Sandra Spielvogel.
© privat
Kontakt:
Prof. Dr. Sandra Spielvogel
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Institut für Pflanzenernährung und Bodenkunde
Telefon: 0431/880-7411
E-Mail: >s.spielvogel@soils.uni-kiel.de>
https://www.soils.uni-kiel.de
Pressekontakt:
Dr. Doreen Saggau
Öffentlichkeitsarbeit & wissenschaftliche Kommunikation
Agrar- und Ernährungswissenschaftliche Fakultät
Telefon: 0431/880-7126
E-Mail: dsaggau@agrar.uni-kiel.de
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Presse, Kommunikation und Marketing, Eva Sittig, Text/Redaktion: Prof. Sandra Spielvogel/Christin Beeck
Postanschrift: D-24098 Kiel, Telefon: (0431) 880-2104, Telefax: (0431) 880-1355
E-Mail: presse@uv.uni-kiel.de Internet: www.uni-kiel.de Twitter: www.twitter.com/kieluni
Facebook: www.facebook.com/kieluni Instagram: www.instagram.com/kieluni
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Sandra Spielvogel
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Institut für Pflanzenernährung und Bodenkunde
Telefon: 0431/880-7411
E-Mail: s.spielvogel@soils.uni-kiel.de
https://www.soils.uni-kiel.de
Weitere Informationen:
http://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/071-tibet-grassland
Media Contact
Alle Nachrichten aus der Kategorie: Ökologie Umwelt- Naturschutz
Dieser Themenkomplex befasst sich primär mit den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und den auf sie wirkenden Umweltfaktoren, aber auch im weiteren Sinn zwischen einzelnen unbelebten Umweltfaktoren.
Der innovations report bietet Ihnen interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Klimaschutz, Landschaftsschutzgebiete, Ökosysteme, Naturparks sowie zu Untersuchungen der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes.
Neueste Beiträge
Lange angestrebte Messung des exotischen Betazerfalls in Thallium
… hilft bei Zeitskalenbestimmung der Sonnenentstehung. Wie lange hat eigentlich die Bildung unserer Sonne in ihrer stellaren Kinderstube gedauert? Eine internationale Kollaboration von Wissenschaftler*innen ist einer Antwort nun nähergekommen. Ihnen…
Soft Robotics: Keramik mit Feingefühl
Roboter, die Berührungen spüren und Temperaturunterschiede wahrnehmen? Ein unerwartetes Material macht das möglich. Im Empa-Labor für Hochleistungskeramik entwickeln Forschende weiche und intelligente Sensormaterialien auf der Basis von Keramik-Partikeln. Beim Wort…
Klimawandel bedroht wichtige Planktongruppen im Meer
Erwärmung und Versauerung der Ozeane stören die marinen Ökosysteme. Planktische Foraminiferen sind winzige Meeresorganismen und von zentraler Bedeutung für den Kohlenstoffkreislauf der Ozeane. Eine aktuelle Studie des Forschungszentrums CEREGE in…