Physiker-Netzwerk gegründet – gemeinsam forschen in Europa
Rund 300 junge Physiker werden in den nächsten vier Jahren in einem Europäischen Netzwerk Glas und glasähnliche Materialien erforschen – im Mittelpunkt stehen Alterungsprozesse und Gedächtniseffekte von Glas. Von den Erkenntnissen könnten sowohl Informationstechnik als auch Medizin profitieren.
Beteiligt sind Wissenschaftler aus acht Ländern, die Koordination des deutschen Knotens übernimmt Prof. Dr. Heiko Rieger vom Lehrstuhl für Theoretische Physik der Saar-Uni. Von der EU wird das Projekt mit rund 1,45 Millionen Euro gefördert.
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass das Glas gotischer Kirchenfenster unten dicker ist als oben? Der Grund: Glas altert. Dieses Phänomen ist bekannt, konnte bisher aber noch nicht im Detail entschlüsselt werden. Besonders überraschend und ebenfalls noch ungeklärt: Glas und glasartige Materialien können sich bestimmte Ereignisse – wie etwa extrem langsame Temperatursenkungen -„merken“. Warum das so ist, will ein Europäisches Netzwerk von Physikern in den nächsten vier Jahren erforschen. Auch Wissenschaftler der Universität des Saarlandes sind beteiligt.
Das Großprojekt mit dem Titel „Dynamik und Statik von Gläsern und Spingläsern: Von Altern zu Gedächtnis und Gleichgewichtsstrukturen“ – kurz: DYGLAGEMEM-Network – wird von der Europäischen Union innerhalb des Research Training Network Program gefördert. Knotenpunkte des neu eingerichteten Netzwerks befinden sich an Universitäten in Italien, Frankreich, Irland, Niederlande, Spanien, Schweden, Großbritannien und Deutschland. Von deutscher Seite sind im Netzwerk außer der Universität des Saarlandes auch die Universitäten Heidelberg, Mainz, München und Göttingen vertreten, koordiniert wird der deutsche Knoten von Prof. Dr. Heiko Rieger vom Lehrstuhl für Theoretische Physik der Saar-Uni.
Der Fokus des Projekts liegt auf der Grundlagenforschung: Im Mittelpunkt steht die theoretische und experimentelle Erforschung von Gläsern und glasartigen Materialien wie beispielsweise Hochtemperatur-Supraleitern. Gläser sind zwar fest, weisen aber Gemeinsamkeiten mit Flüssigkeiten auf, sie sind in gewisser Weise „abgeschreckte“ Flüssigkeiten, gefangen in einem extrem langlebigen metastabilen Zustand. Bei nicht-kristallinen Materialien wird generell dann von einem glasartigen Zustand gesprochen, wenn die Struktur amorph ist und dennoch hohe Festigkeit gegenüber mechanischen Spannungen aufweist. Da dieser Zustand metastabil ist, ist das glasartige Material quasi permanent auf der Suche nach einer energetisch günstigeren Struktur, die es jedoch nie erreicht. Das Material „altert“ bedeutet also, dass es auf makroskopisch langen Zeitskalen relaxiert – ein Synonym für glasartige Dynamik.
Dieser Alterungsprozess kann von außen beeinflusst werden, indem Parameter wie Temperatur, Druck, elektrische oder magnetische Felder verändert werden. Verblüffend ist, dass sich glasartige Materialien an solche langsam, das heißt in Stunden, Tagen oder Wochen, vorgenommenen Veränderungen erinnern können, sie zeigen einen Erinnerungs- oder Gedächtniseffekt. Diese faszinierenden Effekte sind erst kürzlich entdeckt worden und theoretisch noch weitgehend unverstanden.
Das physikalische und das chemische Altern amorpher Substanzen spielt eine sehr wichtige Rolle bei allen funktionalen Bauteilen, die hohen mechanischen Beanspruchungen ausgesetzt sind – wie etwa im Flugzeug- oder Brückenbau. Diese Alterungsprozesse voraussagbar zu machen, ist daher eine wichtige Herausforderung des Netzwerkes. Gelingt es den Wissenschaftlern, die Phänomene „Altern“ und „Erinnern“ von amorphen Materialien zu verstehen, könnten unterschiedlichste Industriezweige davon profitieren – angefangen bei der Ingenieurstechnik (z.B. verbesserte Materialien) über die Informationstechnik (z.B. stabilere Übertragungsleitungen) bis hin zur Medizin (z.B. verbesserte Implantate und Apparaturen).
Rund 300 junge Wissenschaftler können sich in dem neu gegründeten Netzwerk weiter qualifizieren. An den deutschen Standorten sind 36 Plätze für Post-Doktoranden geschaffen worden. Mindestens ein Jahr werden sie an einer der Partner-Universitäten verbringen. Um den Stipendiaten zusätzlich zur Grundlagenforschung auch ein Training in industrienaher Forschung zu ermöglichen, sollen Kontakte zu Industrieunternehmen ausgebaut werden. Die Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern erfolgt vor allem auf elektronischem Weg, darüber hinaus sind zwei gemeinsame Sommerschulen und eine Reihe von Workshops geplant. Die in den Projekten entstandenen Dokumente und Berichte sollen künftig zentral in einer Datenbank verfügbar sein.
Die EU unterstützt das Europäische Netzwerk vier Jahre lang mit insgesamt rund 1,45 Millionen Euro, dem deutschen Knoten fließen davon 230.000 Euro zu.
Kontakt:
Prof. Heiko Rieger (Theoretische Physik)
Koordinator des deutschen Knotens im Europäischen Netzwerk DYGLAGEMEM
Tel.: 0681/302-3969, Fax: 0681/302-4899
E-Mail: rieger@lusi.uni-sb.de
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Weitere Informationen:
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