Wie Rohrströmungen turbulent werden
Eine internationale Forschergruppe unter Marburger Beteiligung fand heraus, wie Rohrströmungen turbulent werden. Ihre Erkenntnisse können helfen, den Strömungswiderstand in Pipelines zu verringern. Am 10. September 2004 werden sie im US-amerikanischen Wissenschaftsjournal Science veröffentlicht.
Eine internationale Forschergruppe von der Technischen Universität Delft (Niederlande), der Philipps-Universität Marburg, der Universität Bristol (Großbritannien) und der Universität Wisconsin (USA) hat einen wichtigen Beitrag zur Lösung des Turbulenzrätsels – dem Übergang von laminaren („glatten“ Strömungen ohne Verwirbelungen) zu „turbulenten“ Strömungen – geleistet. In Experimenten am Strömungskanal in Delft ist es gelungen, in einer turbulenten Strömung in einem Rohr eine besondere Form von Wirbeln, so genannte laufende Wellen, nachzuweisen. Die Ergebnisse werden am 10. September 2004 unter dem Titel „Experimental observation of nonlinear traveling waves in turbulent pipe flow“ im US-amerikanischen Wissenschaftsjournal Science veröffentlicht.
Die experimentellen Befunde unterstützen eine Hypothese, derzufolge eine turbulente Strömung sich um einige wenige laufende Wellen herum organisiert. Theoretisch waren die laufenden Wellen von den Gruppen in Marburg und Bristol bereits vorhergesagt worden, nun sind sie experimentell nachgewiesen. Von ihren Arbeiten aus dem Bereich der Chaosforschung versprechen sich die Wissenschaftler auch Ideen und Konzepte, die zu einer Klärung von Aspekten des Turbulenzübergangs in Scherströmungen beitragen können. Anwendung finden können die Ergebnisse unter anderem bei der Verringerung des turbulenten Strömungswiderstands in Röhren, wie sie in großer Zahl in der Verfahrenstechnik und in Pipelines für den Transport von Öl und Gas eingesetzt werden.
Turbulenz im Alltag und in den Naturwissenschaften
Turbulente Strömungen sind aus dem Alltag wohlbekannt, seien es die Bewegung der uns umgebenden Luft und Wolken, die Strömung von Flüssen oder die Wirbel beim Umrühren des Kaffees. Strömungen durch Rohre treten ebenfalls häufig auf: in der Verfahrenstechnik, in Wasserleitungen, aber auch in der Luftröhre oder den Blutbahnen.
In den Naturwissenschaften ist die Turbulenz ein herausragendes Beispiel für eine komplexe, chaotische und durch Nichtlinearitäten dominierte Bewegung. Während ihre quantitative Beschreibung für Forscher nach wie vor eine große Herausforderung bleibt, bringt sie in der Praxis meist Nachteile, da der Strömungswiderstand einer turbulenten Strömung größer als der einer laminaren Strömung ist und zudem schneller mit der Strömungsgeschwindigkeit anwächst.
Von Laminar nach Turbulent
Der Übergang von einer laminaren zu einer turbulenten Strömung lässt sich leicht am Beispiel eines Wasserhahns demonstrieren. Bei vorsichtigem Aufdrehen kommt erst ein glatter, laminarer Strahl heraus (jedenfalls dann, wenn der Strahl nicht durch ein Sieb aufgewirbelt wird): Die Flüssigkeitsteilchen darin bewegen sich parallel und geordnet nebeneinander her. Wird der Hahn weiter aufgedreht, kommt es zu einem Überschlag vom glatten zu einem verwirbelten, undurchsichtigen Strahl: Die Strömung wird turbulent.
Schon Leonardo da Vinci hielt Turbulenz im Jahr 1529 in eindrucksvollen Zeichnungen fest. Eine grundlegende quantitative Untersuchung des Übergangs veröffentlichte Osborne Reynolds im Jahr 1883: Er beobachtete die Wirbel im turbulenten Fall und stellte fest, dass der Übergang nicht nur von der Strömungsgeschwindigkeit, sondern auch von der Stärke einer Störung abhängt. Reynolds fand auch heraus, dass verschiedene Flüssigkeiten, die durch verschieden dicke Rohre fließen, sich mit Hilfe derselben Kennzahl, der nach ihm benannten Reynoldsschen Zahl, zueinander in Bezug setzen lassen – Strömungen mit der gleichen Reynoldsschen Zahl verhalten sich also gleichartig. Diese dimensionslose Zahl (eine Zahl ohne Einheiten) berechnet sich aus der mittleren Strömungsgeschwindigkeit, der kinematischen Viskosität und dem Durchmesser des Rohrs.
Ein neues theoretisches Modell
Die Rohrströmung weist eine Besonderheit auf: Wenn sich bei ihr das laminare Strömungsprofil einmal eingestellt hat und nur schwach gestört wird, bleibt es bei allen Strömungsgeschwindigkeiten bestehen. Erst bei Störungen genügend großer Amplitude wird der laminare Zustand verlassen und es stellt sich eine turbulente Strömung ein. Damit koexistieren im Falle der Rohrströmung immer die laminare Bewegung und die turbulente. Zudem zeigen numerische Untersuchungen, wie sie schon seit einiger Zeit in Marburg durchgeführt werden, dass der turbulente Zustand nicht dauerhaft besteht, sondern nach einer, wenn auch manchmal sehr langen Zeit, wieder zerfallen kann.
Die Marburger Physiker Professor Dr. Bruno Eckhardt und Dr. Holger Faisst haben dieser Beobachtung nun noch ein quantitatives Maß hinzugefügt: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Strömung nach einer bestimmten Zeit noch turbulent ist, fällt exponentiell mit der Zeit ab, und die Halbwertszeit einer turbulenten Strömung steigt sehr schnell mit der Reynoldszahl an. Dieses Verhalten ist von anderen chaotischen Systemen bekannt und deutet auf die Existenz eines so genannten chaotischen Sattels hin. Entscheidend für die weitere Bestätigung dieses Bildes war die Identifikation der Zustände, um die herum sich dieser Sattel bildet.
Anfang des Jahres 2003 konnte Eckhardt bei einem Vortrag in Delft erstmals die in numerischen Rechnungen gefundenen Strukturen präsentieren: Es handelt sich um langgestreckte Wirbel, die in Strömungsrichtung orientiert sind. Diese Wirbel transportieren Flüssigkeit, die sich langsam an den Wänden entlang bewegt, in die Mitte des Rohrs und schnelle Flüssigkeit von der Mitte hin zu den Wänden. Ein Querschnitt durch das Rohr zeigt darum Regionen, so genannte streaks, in denen eine gegenüber dem laminaren Strömungsprofil erhöhte beziehungsweise erniedrigte Strömungsgeschwindigkeit herrscht. Solche streaks gehören zu den Hauptindikatoren für den Wirbeltransport. Die Delfter Experimente haben nun sowohl Streaks als auch Wirbel in eindrucksvoller Weise nachgewiesen.
Das Experiment
Im Labor für Aero- und Hydrodynamik der Technischen Universität Delft haben der niederländische Doktorand Casimir van Doorne und der deutsche Postdoktorand Dr. Björn Hof, ein ehemliger Studierender der Philipps-Universität, unter Anleitung von Professor Frans Nieuwstadt und Professor Jerry Westerweel ein Experiment aufgebaut, mit dem sich die Rohrströmung genau vermessen lässt. An einer Messstelle des etwa dreißig Meter langen Aufbaus werden die Flüssigkeitspartikel mit einem aufgefächerten Laserstrahl beleuchtet und stereoskopisch mit zwei Hochgeschwindigkeitskameras fotografiert. Aus zwei kurz hintereinander aufgenommenen Bildern lassen sich dann die Orte und Geschwindigkeitsvektoren der Teilchen rekonstruieren. Mit Hilfe dieser stereoskopischen „particle image velocimetry“ (PIV) lässt sich das lokale Geschwindigkeitsfeld in einer Querschnittsfläche vermessen.
Induziert man stromaufwärts gezielt eine Störung, zeigen sich, während diese Störung an der Messstelle vorbeiströmt, im Querschnitt die Wirbel und vor allem die charakteristischen Streaks. Weil ihre Zahl, Breite, Position und zeitliche Entwicklung gut mit den theoretischen Vorhersagen übereinstimmen, können die theoretisch vorhergesagten Strukturen nun als identifiziert gelten und weiteren Untersuchungen unterzogen werden.
Weitere Informationen:
Professor Dr. Bruno Eckhardt: Philipps-Universität Marburg, derzeit erreichbar in den USA unter Tel.: +1 (301) 326 3399, E-Mail: bruno.eckhardt@physik.uni-marburg.de
Dr. Björn Hof: Labor für Aero- und Hydrodynamik der Technischen Universität Delft, Tel. +31 (15) 2782905, E-Mail: b.hof@wbmt.tudelft.nl
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