Magnetische Momente im Kristall-Mosaik

Internationales Forscherteam findet bei Neutronenstrahl-Experimenten wichtigen Ansatzpunkt für die Erklärung der Hochtemperatursupraleitung

Hochtemperatursupraleiter sind seit 15 Jahren bekannt und haben bereits zu einer Vielzahl von Anwendungen geführt. Trotzdem ist der diesem Phänomen zugrunde liegende Mechanismus noch immer weitgehend ungeklärt. Durch Experimente mit Neutronenstrahlen hat ein Physikerteam unter Leitung von Prof. Bernhard Keimer, Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, vom Centre d’Energie Atomique in Frankreich und von der Russischen Akademie der Wissenschaften jetzt gezeigt, dass eine ungewöhnliche, fluktuierende magnetische Ordnung von zentraler Bedeutung für die Hochtemperatursupraleitung ist. Ihre Ergebnisse erscheinen in dieser Woche in der Online-Ausgabe der Zeitschrift Science (Science EXPRESS, 24. Januar 2002).

Normale Metalle wie Kupfer heizen sich auf, wenn durch sie ein elektrischer Strom fließt. Deshalb ist der Transport von Elektrizität stets mit großen Verlusten verbunden. Um diese in Grenzen zu halten, sind technische Großanlagen wie z.B. Hochspannungsleitungen erforderlich. Einige Metalle werden jedoch unterhalb der so genannten Übergangs- oder Sprungtemperatur zu Supraleitern, d.h. sie leiten elektrischen Strom ohne jeglichen Verlust. Doch leider liegt die Sprungtemperatur bei herkömmlichen Supraleitern nur einige Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273°C). Da die Abkühlung auf diese Temperatur mit erheblichem Aufwand verbunden ist, findet man herkömmliche Supraleiter nur in wenigen technischen Anwendungen. Doch 1986 entdeckten J.G. Bednorz und K.A. Müller Supraleitung in einer Klasse von Kupferoxiden, deren maximale Sprungtemperatur bei Normaldruck immerhin schon 134 K (-139°C) beträgt. Für die Entdeckung der Hochtemperatursupraleiter erhielten Bednorz und Müller im Jahr 1987 den Physik-Nobelpreis. Seither ist das Interesse an den Hochtemperatursupraleitern ungebrochen. Es beruht darauf, dass viele dieser Materialien bereits bei Kühlung mit flüssigem Stickstoff (77 K) supraleitend werden, was deutlich kostengünstiger ist als die Kühlung mit Helium (4,2 K).

Doch trotz großer Erfolge bei der Herstellung und Entwicklung dieser Materialien ist der zugrunde liegende Mechanismus noch immer ungeklärt. Denn die herkömmliche, schon seit nunmehr fast 50 Jahren bestehende Theorie der Supraleitung ist auf die Hochtemperatursupraleiter nur beschränkt anwendbar. Dieser Theorie zufolge bilden je zwei freie Elektronen eines Metalls unterhalb der Sprungtemperatur so genannte „Cooper-Paare“. Jedes Cooper-Paar lässt sich in der Quantenmechanik als neues Teilchen, als „Boson“, beschreiben. Seit den Arbeiten von Einstein und Bose zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiß man, dass ein System von Bosonen bei tiefen Temperaturen in einen makroskopisch kohärenten Zustand übergeht, dessen quantenmechanische Wellenfunktion sich über das gesamte System erstreckt. Im kondensierten Zustand kann sich daher jedes Boson ohne Widerstand vom einem zum anderen Ende eines Materials bewegen. Die Entdeckung dieser „Bose-Einstein-Kondensation“ in Systemen atomarer Bosonen wurde im Jahr 2001 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet.

Der Supraleitung liegt ein ganz ähnliches Prinzip zugrunde – mit einem Unterschied: Die aus zwei Elektronen bestehenden bosonischen Cooper-Paare sind elektrisch geladen und können daher den elektrischen Strom völlig ungehindert durch das gesamte Material transportieren. Da die beiden Elektronen eines Cooper-Paars negativ geladen sind, stoßen sie sich elektrisch ab. Deshalb wird für die Bildung der Cooper-Paare eine der elektrischen Abstoßung entgegenwirkende, anziehende Kraft gebraucht. In herkömmlichen Supraleitern beruht diese Kraft auf den koordinierten Bewegungen der positiv geladenen Atomkerne, den „Phononen“. Diese mildern die elektrische Abstoßung der Elektronen ab bzw. heben sie sogar auf. Die Stärke der durch Phononen vermittelten Paarbildungskraft reicht allerdings nur für die Supraleitung bei sehr niedrigen Temperaturen, wie sie in herkömmlichen Metallen beobachtet wird.

Für die Bildung von Cooper-Paaren in Hochtemperatursupraleitern bedarf es einer stärkeren Kraft, deren Ursprung auch nach fast 15 Jahren noch immer umstritten ist. Auf der Suche danach untersuchten die Max-Planck-Wissenschaftler und ihre Partner den Hochtemperatursupraleiter Tl2Ba2CuO6 mit Neutronenstrahlen. Die Neutronenstreuung ist eine Technik, die analog zur Streuung von Lichtstrahlen funktioniert. Ähnlich wie gestreute Lichtstrahlen Objekte für das menschliche Auge sichtbar machen, können aus der Streuung von Neutronenstrahlen detaillierte Daten über die Beschaffenheit von Materialien gewonnen werden. Doch anders als Licht dringen Neutronen tief ins Innere eines Materials vor, sodass Informationen nicht nur über die Oberfläche, sondern auch über das Gesamtvolumen verfügbar werden. Neutronen haben einen Eigendrehimpuls, den so genannten „Spin“, und damit ein magnetisches Moment. Sie verhalten sich deshalb wie winzige Stabmagnete. Das selbe gilt für die Elektronen innerhalb eines Festkörpers – auch sie besitzen einen Spin. Werden zwei Stabmagnete nebeneinander gehalten, stoßen sie sich ab oder ziehen sich an, je nachdem wie sie zueinander orientiert sind. Dasselbe passiert mit den Neutronen und Elektronen innerhalb eines Festkörpers: Durch ihre Wechselwirkung kehrt sich der Neutronenspin um und der einfallende Neutronenstrahl wird entsprechend abgelenkt, was gemessen und ausgewertet werden kann (s. Abb.).

„Abb.: Untersuchung eines Mosaiks aus Kristallen eines Hochtemperatursupraleiters mit Neutronenstrahlen (gelb). Neutronen sind Elementarteilchen, die durch ihre Eigenrotation, den „Spin“, ein Magnetfeld in ihrer Umgebung erzeugen – ähnlich wie ein winziger Stabmagnet. Fällt ein Neutronenstrahl auf ein magnetisches Material, kehrt sich der Spin der Neutronen um und der Strahl wird abgelenkt. Ein internationales Forscherteam hat mit Neutronenstrahlexperimenten jetzt Hinweise auf eine ungewöhnliche, fluktuierende magnetische Ordnung in Hochtemperatursupraleitern gefunden, die für die Erklärung dieses Phänomens von entscheidender Bedeutung sein könnte.“ „Grafik: Max-Planck-Institut für Festkörperforschung“

Bisher jedoch wurden Neutronenstreu-Experimente mit Hochtemperatursupraleitern dadurch erschwert, dass die dafür benötigten großen Einkristalle nur äußerst schwer zu erzeugen waren. Den Max-Planck-Forschern gelang es jetzt, dieses Problem mit einem Trick zu umgehen: Sie packten mehrere hundert winzige Kristalle des Materials in eine Art „Mosaik“, das als Ganzes einem großen Einkristall nahezu äquivalent ist und damit Neutronenstreu-Experimente an Tl2Ba2CuO6 möglich machte (s. Abb.).

Bei diesen Experimenten hat das deutsch-französisch-russische Forscherteam einen überzeugenden Ansatzpunkt zur Erklärung der Hochtemperatursupraleitung gefunden – einen magnetischen Mechanismus zur Bildung von Cooper-Paaren. Schon frühzeitig hatten andere Forschergruppen bei der Untersuchung von bestimmten Kupferoxidmaterialien mit magnetischer Neutronenstreuung Hinweise darauf entdeckt, dass sich der Spin der Elektronen in Hochtemperatursupraleitern grundsätzlich anders verhält als in herkömmlichen Supraleitern. Während sie in konventionellen Supraleitern völlig ungeordnet sind, weisen die Spins in Hochtemperatursupraleitern eine ungewöhnliche magnetische Ordnung auf: Der Spin jedes zweiten Elektrons ist – bei einer Momentaufnahme – genau in die andere Richtung orientiert wie der erste. Doch anders als in Materialien wie z.B. magnetisiertem Eisen, wo alle Elektronenspins dauerhaft in eine Richtung zeigen, fluktuiert dieses magnetische Ordnungsmuster in den Hochtemperatursupraleitern, d.h. es entsteht und vergeht über kurze Zeitspannen. Prof. Bernhard Keimer, Direktor am Stuttgart Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, ist zuversichtlich: „Die aus unserem Kristall-Mosaik gewonnenen Daten lassen es plausibel erscheinen, dass sich die Cooper-Paare in diesem Hochtemperatursupraleiter über einen magnetischen Mechanismus bilden. Dieser könnte darauf beruhen, dass sich Elektronenpaare einfacher durch einen Hintergrund fluktuierender Elektronenspins bewegen können als einzelne freie Elektronen – sie würden auf diese Weise magnetische Energie sparen. Wir gehen deshalb davon aus, dass mit unseren Ergebnissen nach fast 15 Jahren Forschung eine endgültige Theorie der Hochtemperatursupraleitung in greifbare Nähe gerückt ist.“

Einschränkend fügt der Forscher hinzu: „Diese Erklärung ist allerdings nur dann überzeugend, wenn wir eine fluktuierende magnetische Ordnung tatsächlich in allen Hochtemperatursupraleitern nachweisen können, insbesondere auch in den chemisch reinsten Materialien mit den höchsten Sprungtemperaturen.“ Deshalb wollen die Wissenschaftler ihre „prototypisch“ an einem Hochtemperatursupraleiter gewonnenen Einsichten an weiteren Stoffen testen. Hierbei geht es z.B. um die Frage, warum einige der Materialien bereits bei 134 K supraleitend werden, während dies bei anderen Materialien erst bei niedrigeren Temperaturen geschieht. Was ist die Ursache dafür? Ist es die selbe oder eine andere magnetische Ordnung? Erst wenn diese Fragen beantwortet sind, kann eine umfassende Theorie der Hochtemperatursupraleitung formuliert werden.

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