Die Quantenspinflüssigkeit, die gar keine ist
Oft ist die einfachste Erklärung die Beste – das gilt auch für die Wissenschaft. So zeigten Forschende von TU Wien und der Toho Universität kürzlich, dass sich eine vermeintliche Quantenspinflüssigkeit mit konventioneller Physik beschreiben lässt.
Zwei Jahrzehnte lang glaubte man, in einem synthetisch hergestellten Material eine mögliche Quantenspinflüssigkeit gefunden zu haben. Diese würde – so die Annahme – auch auf makroskopischer Ebene nicht den Gesetzen der klassischen Physik folgen, sondern denen der Quantenwelt. Die Hoffnung in diese Materialien ist groß: Sie würden sich für Anwendungen in quantenverschränkter Informationsübertragung oder auch Quantencomputern eignen.
Nun zeigten Forschende von TU Wien und der Toho Universität in Japan jedoch, dass es sich bei dem vielversprechenden Material, κ-(BEDT-TTF)2Cu2(CN)3, nicht um die vorhergesagte Quantenspinflüssigkeit handelt, sondern um ein Material, das sich mit bekannten Konzepten beschreiben lässt.
In ihrer kürzlich veröffentlichten Publikation in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ berichten die Forschenden, wie sie den rätselhaften Quantenzustand untersucht haben, indem sie den elektrischen Widerstand in κ-(BEDT-TTF)2Cu2(CN)3 temperatur- und druckabhängig gemessen haben. Bereits 2021 hat Andrej Pustogow vom Institut für Festkörperphysik an der TU Wien die magnetischen Eigenschaften des Materials untersucht.
Phasendiagramme verdeutlichen Materialeigenschaften
„Phasendiagramme sind die Sprache der Physik“, zieht Andrej Pustogow, Erstautor der aktuellen Studie, einen Vergleich. Versteht man diese Sprache, lässt sich anhand eines kurzen Blickes auf das Diagramm ablesen, wie sich die Eigenschaften eines Materials je nach Temperatur und Druck verändern. Wasser wird beispielsweise bei einer Temperatur von 0 °C fest und bei 100 °C gasförmig. Verändert man nun den Druck, zum Beispiel indem man Wasser in einem Schnellkochtopf erhitzt, steigt der Siedepunkt auf über 100 °C.
Um nun herauszufinden, wie sich die vermeintliche Quantenspinflüssigkeit – also eine Flüssigkeit, in der die Spins der Elektronen frei rotieren können – unter Druck verhält, führte das Forschungsteam systematische Widerstandsmessungen durch. „Das Besondere ist, dass der Verlauf der Phasengrenze tiefe Einblicke in die Physik der magnetischen Quantenfluktuationen gibt, was man eigentlich mit elektrischem Widerstand per se gar nicht messen kann“, sagt Pustogow. Möglich wurde dies erst durch eine weltweit einzigartige Methode, mit der die japanischen Partner das Material untersucht haben. „Wir machen also das Unmögliche möglich und folgen den Entropie-Fußabdrücken der magnetischen Momente und gewinnen damit neue Einblicke in eine vermeintliche Quantenspinflüssigkeit“, fährt Andrej Pustogow fort.
Unordnung als Schlüssel
Außerdem stellten die Forschenden fest, dass das Phasendiagramm von κ-(BEDT-TTF)2Cu2(CN)3 stark an das von Helium-3 erinnert. Ein sowjetischer Forscher sagte bereits in den 1950er Jahren vorher, dass sich Helium-3 anders als herkömmliche Materialien verhält und bei niedrigen Temperaturen (von unter 0,3 Kelvin) nicht von flüssig zu fest, sondern von fest zu flüssig wird. Genau derselbe Effekt tritt auch bei Elektronen in Festkörpern auf, wenn sie mit zunehmender Temperatur von einem metallischen Zustand (bewegliche Elektronen) zu einem Mott-Isolator einfrieren, in dem die Elektronen fest am Atom gebunden sind und sich nicht bewegen.
Diesen „Pomerantschuk-Effekt“, benannt nach dem Forscher, der ihn vorhersagte, fand das internationale Forschungsteam auch in κ-(BEDT-TTF)2Cu2(CN)3: Das Material zeigt bei höheren Temperaturen zunächst isolierendes Verhalten mit starren Elektronen, die beim Abkühlen zu einer Flüssigkeit (Metall) aufschmelzen. Unterhalb von 6 Kelvin frieren die Elektronen erneut fest und verlieren nun auch ihre magnetischen Momente.
„Obwohl es sich bei κ-(BEDT-TTF)2Cu2(CN)3 selbst um keine Quantenspinflüssigkeit handelt, liefert unsere Forschung wichtige Anhaltspunkte für die weitere Erforschung dieser Materialien. Unsere Experimente helfen zum Beispiel dabei, den Effekt der magnetoelastischen Kopplung besser zu verstehen. Gelingt es uns diese zu kontrollieren, können wir möglicherweise auch eine Quantenspinflüssigkeiten realisieren,“ resümiert Andrej Pustogow.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Andrej Pustogow
Technische Universität Wien
Institut für Festkörperphysik
+43 1 58801 13128
andrej.pustogow@tuwien.ac.at
https://www.ifp.tuwien.ac.at/forschung/pustogow-research/home
Originalpublikation:
Pustogow, A., Kawasugi, Y., Sakurakoji, H., & Tajima, N. Chasing the spin gap through the phase diagram of a frustrated Mott insulator. Nature Communications, 14(1), 1960 (2023). https://doi.org/10.1038/s41467-023-37491-z
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