Einblicke in eine besondere Form der Supraleitung
In manchen Materialien nehmen Elektronen einen ungewöhnlichen Zustand ein, die sogenannte nematische Ordnung: Sie bewegen sich nicht gleichmäßig in alle Richtungen, sondern nehmen spontan eine Vorzugsorientieung ein. Dieses erst kürzlich entdeckte Verhalten haben Forschende mittlerweile in mehreren Supraleitern beschrieben, also in Materialien, die Strom verlustfrei leiten können. Bislang mangelt es jedoch an hochauflösenden Methoden, um solche nematischen Supraleiter erforschen zu können. Das möchte Prof. Dr. Anna Böhmer ändern.
Die Experimentalphysikern an der Ruhr-Universität Bochum wurde vom Europäischen Forschungsrat ERC mit einem Starting Grant ausgezeichnet. Für ihre Forschungen zur nematischen Supraleitung erhält sie 1,5 Millionen Euro über fünf Jahre.
Sowohl Supraleitung als auch nematische Ordnung basieren auf besonderen Elektronenzuständen. In Supraleitern tun sich Elektronen zu speziellen Paaren zusammen, was dazu führt, dass der elektrische Widerstand vollständig verschwindet. Bei der nematischen Ordnung verlieren die Elektronen ihre Kugelsymmetrie und bevorzugen eine bestimmte Orientierung. „Das Phänomen der Supraleitung ist seit 100 Jahren bekannt, aber trotzdem sind viele Aspekte immer noch rätselhaft“, sagt Anna Böhmer. Noch rätselhafter ist für Forschende die Kombination aus Supraleitung und nematischer Ordnung: Warum treten nematische Ordnung und unkonventionelle Supraleitung oft zusammen auf? Gibt es einen gemeinsamen Mechanismus, der sowohl nematische Ordnung als auch Supraleitung hervorruft?
Geeignete Methoden fehlen
Noch fehlt es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an Verfahren, um nematische Supraleitung erforschen zu können. Dabei könnten elastische Eigenschaften helfen. Denn ein Material, das kurz vor dem Übergang in die nematische Phase steht, lässt sich besonders leicht in der nematischen Richtung dehnen. Die mechanische Steifigkeit bietet also eine Möglichkeit, die Tendenz zu nematischer Ordnung auszumessen.
Klassische Dehnungsmessungen haben jedoch eine zu geringe Auflösung für diesen Zweck. Andere Verfahren, die auf Messungen der Schallgeschwindigkeit basieren, sind für die Materialien nicht geeignet, weil die Proben oft zu klein oder nicht perfekt genug sind. Im Rahmen ihres Grants verfolgt Anna Böhmer daher einen neuen Ansatz. Sie möchte die elastische Verformung mit der sogenannten kapazitativen Dilatometrie bestimmen. Diese hat eine besonders hohe Auflösung. „Wir können damit erkennen, wenn sich eine drei Millimeter lange Probe um Bruchteile von Ångström verändert“, erklärt Böhmer. „Das ist so, als ob das höchste Gebäude der Welt von 830 Meter Höhe um die Dicke eines Spinnwebefadens kleiner werden würde.“
Zwei Supraleiter im Blick
Böhmer plant mit ihrem Team zwei verschiedene Materialklassen zu untersuchen, in denen nematische Ordnung und Supraleitung wechselwirken. Auch von neuartigen Supraleitern möchte die Gruppe die nematischen Eigenschaften bestimmen. „Damit werden wir neue Einsichten in das jahrzehntealte Gebiet der unkonventionellen Supraleitung gewinnen“, so Böhmer. Der experimentelle Ansatz, den die Forscherin erprobt, soll sich aber auch auf andere Fragen der experimentellen Festkörperphysik und der Materialwissenschaften übertragen lassen.
Zur Person
Anna Böhmer studierte Physik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Ecole Polytechnique in Frankreich. Ihre Promotion am KIT schloss sie 2014 ab. Anschließend war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Iowa State University tätig, bevor sie 2017 die Leitung einer Helmholtz-Nachwuchsgruppe am KIT übernahm. Seit 2021 hat sie an der RUB die Professur für experimentelle Festkörperphysik inne.
Wissenschaftliche Ansprechpartner:
Prof. Dr. Anna Böhmer
Experimentalphysik IV
Fakultät für Physik und Astronomie
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 23649
E-Mail: boehmer@physik.rub.de
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