Komplexe Dynamik aus Daten vorhersagen

Im Wasserbecken-​Experiment leitet der Algorithmus aus dem beobachteten Schwappen des Wassers (von grünem Licht beleuchtet) ein nichtlineares mathematisches Modell her. (Bild: Kerstin Avila / Universität Bremen)

For­schen­de der ETH Zü­rich ha­ben ei­nen neu­en Al­go­rith­mus ent­wi­ckelt, der es ih­nen er­laubt, die Dy­na­mik phy­si­ka­li­scher Sys­te­me aus Be­ob­ach­tun­gen zu mo­del­lie­ren. In Zu­kunft könn­te er auf das Ent­ste­hen von Tur­bu­lenz und Kipp­punk­te im Kli­ma an­ge­wandt wer­den.

Phy­si­ka­li­sche Sys­te­me zu mo­del­lie­ren, die sich dy­na­misch ent­wi­ckeln, ist ein zen­tra­ler Be­stand­teil von Wis­sen­schaft und Tech­nik. In­ge­nieur:in­nen müs­sen wis­sen, wie die Flü­gel ei­nes neu­en Flug­zeug­mo­dells un­ter be­stimm­ten Flug­be­din­gun­gen vi­brie­ren, und Kli­ma­for­schen­de ver­su­chen vor­her­zu­sa­gen, wie sich glo­ba­le Tem­pe­ra­tu­ren und Wet­ter­mus­ter in der Zu­kunft ent­wi­ckeln. Das sind schwie­ri­ge Auf­ga­ben, denn die zu­grun­de­lie­gen­den Sys­te­me ver­hal­ten sich ih­rer Na­tur nach nicht li­ne­ar. Das be­deu­tet bei­spiels­wei­se, dass ein Flug­zeug­flü­gel sich nicht dop­pelt so weit biegt, wenn man ei­ne dop­pelt so gros­se Kraft auf ihn aus­übt (er könn­te sich ent­we­der stär­ker oder auch we­ni­ger stark bie­gen).

Wis­sen­schaft­ler:in­nen sind in der La­ge, sol­che nicht­li­nea­ren dy­na­mi­schen Sys­te­me zu mo­del­lie­ren, in­dem sie ent­we­der li­nea­re Nä­he­run­gen ma­chen oder aber be­stimm­te nicht­li­nea­re Glei­chun­gen an­neh­men und dann das Mo­dell den be­ob­ach­te­ten Da­ten an­pas­sen. Bei­de An­sät­ze füh­ren al­ler­dings zu Mo­del­len, die oft­mals nur über ei­nen be­grenz­ten Be­reich der Be­we­gun­gen des Sys­tems gül­tig sind. Ei­ne Grup­pe von Wis­sen­schaft­ler:in­nen un­ter der Lei­tung von Ge­or­ge Hal­ler, Pro­fes­sor für nicht­li­nea­re Dy­na­mik an der ETH Zü­rich hat nun ge­mein­sam mit For­schen­den der Uni­ver­si­tät Bre­men ei­nen neu­en Weg ge­fun­den, um Com­pu­ter da­zu zu brin­gen, di­rekt aus ex­pe­ri­men­tel­len Da­ten nicht­li­nea­re dy­na­mi­sche Mo­del­le her­zu­lei­ten, die deut­lich ge­naue­re Vor­her­sa­gen ma­chen kön­nen al­so frü­he­re Al­go­rith­men.

Die Gren­zen des sta­ti­schen Ma­schi­nen­ler­nens

In den letz­ten Jah­ren ha­ben For­schen­de enor­me Fort­schrit­te da­bei ge­macht, Com­pu­tern bei­zu­brin­gen, wie man Mus­ter, Ge­sich­ter und so­gar mensch­li­che Spra­che er­kennt. «Das sind un­glaub­li­che Er­run­gen­schaf­ten», sagt Hal­ler, «aber sol­che An­sät­ze des ma­schi­nel­len Ler­nens wur­den für Pro­ble­me er­dacht, die im We­sent­li­chen sta­tisch sind. Im Ge­gen­satz da­zu ist es deut­lich schwie­ri­ger, Com­pu­ter da­zu zu brin­gen, das Ver­hal­ten dy­na­mi­scher Sys­te­me zu ler­nen, selbst wenn sie so au­gen­schein­lich sim­pel sind wie Was­ser, das in ei­nem Be­cken schwappt.» Ein voll­stän­di­ges phy­si­ka­li­sches Mo­dell für schwap­pen­des Waser müss­te nicht nur den ge­sam­ten Flüs­sig­keits­fluss be­inhal­ten, son­dern auch an­de­re Phä­no­me­ne wie das Bre­chen von Wel­len auf der Ober­flä­che. Her­kömm­li­che Si­mu­la­tio­nen, die all dies be­rück­sich­ti­gen, sind selbst auf mo­der­nen Su­per­com­pu­tern äus­serst zeit­auf­wen­dig.

«Un­ser neu­er An­satz be­ruht auf der Ein­sicht, dass man nicht al­le De­tails der Dy­na­mik wie­der­ge­ben muss, son­dern nur ih­re Schlüs­sel­ele­men­te», sagt Mat­tia Ce­ne­de­se, Post­dok­to­rand in Hal­lers Grup­pe und Erst­au­tor der so­eben im Fach­jour­nal Na­tu­re Com­mu­ni­ca­ti­ons ver­öf­fent­lich­ten Stu­die.

Das gros­se Gan­ze er­fas­sen

Um beim Ver­gleich mit der Ge­sichts­er­ken­nung zu blei­ben: An­statt sich die De­tails ei­nes mensch­li­chen Ge­sichts bis hin zu klei­nen Fält­chen oder gar ein­zel­nen Po­ren in der Haut an­zu­se­hen, be­trach­tet der Com­pu­ter­al­go­rith­mus der ETH-​Forschenden das gros­se Gan­ze – et­wa die all­ge­mei­ne Form der Au­gen und der Na­se. Auf dy­na­mi­sche Sys­te­me an­ge­wandt ent­spricht dies zum Bei­spiel der Su­che nach Kom­bi­na­tio­nen aus Po­si­ti­on und Ge­schwin­dig­keit ei­nes Teils des Sys­tems und nicht et­wa be­stimm­ten Ver­läu­fen un­ter spe­zi­el­len Um­stän­den. Dies hat zur Fol­ge, dass die Re­chen­zeit von meh­re­ren Stun­den oder gar Ta­gen auf we­ni­ge Mi­nu­ten ver­kürzt wer­den kann.

Um die Stär­ke ih­res Al­go­rith­mus zu de­mons­trie­ren, be­nutz­ten Hal­ler und sei­ne Mit­ar­bei­ten­den die Er­geb­nis­se ei­nes Wasserbecken-​Experiments, das ih­re deut­schen Kol­le­gen durch­ge­führt hat­ten. In die­sem Ex­pe­ri­ment wur­de ein mit Was­ser ge­füll­tes Be­cken zu­nächst hin und her ge­schüt­telt, bis das Was­ser be­gann, pe­ri­odisch zu schwap­pen. Das Schüt­teln des Be­ckens wur­de plötz­lich ge­stoppt und das Was­ser ge­filmt, wäh­rend das Schwap­pen lang­sam nach­liess. Aus die­sen Auf­nah­men wur­de die Be­we­gung des Mas­sen­zen­trums des Was­sers er­rech­net und in ei­nen Com­pu­ter ge­speist. Der Al­go­rith­mus stell­te dann ein ein­fa­ches, aber den­noch nicht­li­nea­res, ma­the­ma­ti­sches Mo­dell auf, wel­ches das be­ob­ach­te­te Schwap­pen ge­nau er­fass­te.

«Von ei­nem gu­ten Mo­dell er­war­ten wir, dass es die Dy­na­mik nicht nur un­ter den wäh­rend des ex­pe­ri­men­tel­len Trai­nings vor­herr­schen­den Be­din­gun­gen vor­her­sa­gen kann, son­dern auch un­ter völ­lig an­de­ren Be­din­gun­gen», er­klärt Hal­ler. Und ge­nau das schaff­te das Mo­dell. In ei­ner zwei­ten Rei­he von Ex­pe­ri­men­ten dau­er­te das rhyth­mi­sche Schüt­teln des Be­ckens an, wäh­rend das Was­ser ge­filmt wur­de, was zu ei­ner we­sent­lich an­de­ren Dy­na­mik des Schwap­pens führ­te. Das ma­the­ma­ti­sche Mo­dell sag­te die dar­aus re­sul­tie­ren­de Be­we­gung des Was­sers für ver­schie­de­ne Schüt­tel­fre­quen­zen prä­zi­se vor­her, ob­wohl es ein sol­ches Ex­pe­ri­ment nie zu­vor ge­se­hen hat­te.

Wa­ckeln­de Flü­gel und Kipp­punk­te

Hal­ler und sei­ne Grup­pe ha­ben ih­ren An­satz auch auf an­de­re Sys­te­me an­ge­wandt, wie zum Bei­spiel die si­mu­lier­ten Schwin­gun­gen ei­nes Flug­zeug­flü­gels und das Flies­sen ei­ner zä­hen Flüs­sig­keit zwi­schen zwei sich be­we­gen­den Ober­flä­chen. Ihr Com­pu­ter­pro­gramm ist of­fen ver­füg­bar. «Wir möch­ten, dass die For­schungs­ge­mein­de un­se­ren An­satz auf ih­re ei­ge­nen Pro­ble­me an­wen­den kann, und wol­len da­mit zu ei­nem bes­se­ren Ver­ständ­nis von dy­na­mi­schen Sys­te­men bei­tra­gen, die in der Pra­xis vor­kom­men», sagt Hal­ler und fügt hin­zu: «Vie­le un­ge­lös­te phy­si­ka­li­sche Pro­ble­me, die für die Mensch­heit von In­ter­es­se sind, be­inhal­ten nicht­li­nea­re Dy­na­mik, und auf blos­sem Ma­schi­nen­ler­nen be­ru­hen­de Black-​Box-Methoden funk­tio­nie­ren bei de­nen ein­fach nicht gut».

Um sol­che Pro­ble­me an­zu­ge­hen, so be­tont er, braucht es ma­the­ma­ti­sches Ver­ständ­nis wie je­nes, das in dem neu­en Al­go­rith­mus be­nutzt wird und nur von Men­schen ge­schaf­fen wer­den kann. Er hofft, dass die­ser An­satz es For­schen­de in Zu­kunft er­laubt, dy­na­mi­sche Pro­ble­me zu lö­sen, bei de­nen so ge­nann­te Kip­punk­te ei­ne Rol­le spie­len, die da­zu füh­ren, dass ein dy­na­mi­sches Sys­tem sein Ver­hal­ten plötz­lich und dras­tisch än­dert. Bei­spie­le für sol­che Pro­ble­me sind das Ent­ste­hen von Tur­bu­lenz, die beim Ent­wer­fen von Flug­zeu­gen und in vie­len an­de­ren An­wen­dun­gen ei­ne Rol­le spielt, so­wie Ent­wick­lungs­punk­te im Erd­kli­ma, bei de­nen es kein Zu­rück mehr gibt.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. George Haller
georgehaller@ethz.ch
+41 44 633 82 50

Originalpublikation:

https://www.nature.com/articles/s41467-022-28518-y

Weitere Informationen:

https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2022/02/komplexe-dynam…

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Lina Ehlert Hochschulkommunikation
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH Zürich)

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