Ladungsradien als Prüfstein neuester Kernmodelle

Aus der Verbindung von ab-initio-Modellen (l.) und Dichtefunktionaltheorie (r.) wird ein theoretischer Rahmen für die Beschreibung aller Kerne.
Dr. Felix Sommer/TU Darmstadt

Ein internationales Forschungsprojekt unter Beteiligung von Kernphysikern der TU Darmstadt hat die modernen Möglichkeiten der Erzeugung radioaktiver Isotope genutzt, um erstmals die Ladungsradien entlang einer Reihe kurzlebiger Nickelisotope zu bestimmen. Damit lässt sich zeigen, dass neueste Kerntheorien die Radien gut vorhersagen können. Die Ergebnisse wurden jetzt in der Zeitschrift Physical Review Letters veröffentlicht.

Bis heute sind 118 Elemente bekannt, von denen nur sechs eine „magische“ Protonenzahl besitzen: Bei Helium, Sauerstoff, Calcium, Nickel, Zinn und Blei sind die Schalen, auf denen sich Protonen anordnen, voll besetzt, was ihnen eine besondere Stabilität verleiht. Diese Elemente sind für die Kernphysik das, was die Edelgase für die Chemie und die Atomphysik sind. Das Element Nickel mit 28 Protonen ist eines dieser Elemente.

Informationen über den Verlauf der Kernladungsradien entlang der Isotopenkette – als Maß für die „Größe“ des Kerns eines Isotopes – sind äußerst attraktiv für die Entwicklung eines gemeinsamen theoretischen Rahmens, in dem sich alle Kerne, von den leichtesten bis zu den schwersten, konsistent beschreiben lassen.

Ein wichtiger Teil dieses Vorhabens ist die Verbindung von ab initio-Theorien mit der Dichtefunktionaltheorie (DFT). Die ab initio-Theorie beschreibt Kerne auf der Basis individueller Protonen und Neutronen und den zwischen diesen herrschenden Kräften. Die Dichtefunktionaltheorie basiert auf kontinuierlichen Dichte- und Stromverteilungen der Nukleonen.

Ab initio-Rechnungen waren früher auf leichte Kerne beschränkt, da bei schwereren Elementen aufgrund der wachsenden Nukleonenzahl der Rechenaufwand dramatisch anwuchs. Inzwischen konnte deren Anwendung durch einen großen Fortschritt in der Behandlung von Vielteilchensystemen bis über die Nickelregion hinaus ausgeweitet werden. Die Dichtefunktionaltheorie auf der anderen Seite wurde entwickelt, um sie auch auf Kerne der schwersten bekannten Elemente anwenden zu können. Dafür ist sie aber in der Beschreibung sehr leichter Kerne limitiert. Nickel ist derzeit das schwerste magische Element, auf das beide Modelle angewendet werden können, und daher ein ideales Testfeld.

Die Laserspektroskopie ist die Technik, mit der sich Ladungsradien entlang einer Isotopenkette mit der höchsten Präzision bestimmen lassen. Jetzt haben gleich zwei Experimente mit Beteiligung von Kernphysikern der TU Darmstadt aus der Arbeitsgruppe von Professor Wilfried Nörtershäuser Ladungsradien von Nickelisotopen bestimmt. Eines der Experimente fand an der Isotopenfabrik ISOLDE des CERN statt und das andere am National Superconducting Cyclotron Laboratory an der Michigan State University (NSCL/MSU), wobei jede der beiden Einrichtungen ihre spezifische Stärke in der Produktion kurzlebiger Isotope ausnutzte. An ISOLDE wurde eine ganze Isotopenkette vom leichtesten stabilen Isotop 58Ni bis hin zum neutronenreichen 70Ni untersucht. Im Rahmen seiner Dissertation wertete Simon Kaufmann, AG Nörtershäuser, die Daten des Experiments aus. An der MSU konzentrierten sich die Forschenden auf das neutronenarme und sehr kurzlebige Isotop 54Ni. Auch hier war die AG Nörtershäuser beteiligt.

Die präzise Berechnung von Kernladungsradien ist eine große Herausforderung in der theoretischen Kernphysik. Sowohl bei ab initio- als auch bei DFT-Berechnungen zu neutronenreichen Isotopen des leichteren magischen Elementes Calcium gab es Diskrepanzen zu deren experimentellen Werten. Seitdem wurden beide Ansätze verbessert. Die jetzt veröffentlichte Übereinstimmung der experimentellen Daten für 58-70Ni mit den DFT-Ergebnissen und denen dreier unabhängiger ab initio-Rechnungen, unter anderem mit Beteiligung der Arbeitsgruppe von Professor Achim Schwenk (Institut für Kernphysik der TU Darmstadt), mit Abweichungen von maximal einem Prozent zeigt, dass eine präzise Kerntheorie basierend auf grundlegenden Prinzipien der Kernkraft näher rückt.

Bereits vor einigen Wochen ist in der Zeitschrift Physical Review Letters das Ergebnis der Messung des 54Ni Kernladungsradius an der MSU erschienen. Die Forschenden verglichen es mit dem bereits bekannten Ladungsradius des Kerns 54Fe, bei dem Protonen- und Neutronenzahl gerade miteinander vertauscht sind. Dieser Vergleich erlaubt Rückschlüsse über eine dünne Schicht reiner Neutronenmaterie, die über die Protonen hinausreicht. Die Dicke dieser sogenannten Neutronenhaut hat einen engen Bezug zu Neutronensternen und erlaubt eine bessere Abschätzung der Radien dieser extrem kompakten Objekte, die anderen Beobachtungen kaum zugänglich sind. Mehr Details über dieses Experiment und seine Ergebnisse sind in einem Artikel auf der Webseite der Michigan State University zu finden.

Die Experimente an ISOLDE wurden gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), während die Experimente an MSU Teil des von der DFG geförderten Sonderforschungsbereiches „From Fundamental Interactions to Structure and Stars“ (SFB 1245) sind.

Link zu den Publikationen:
S. Malbrunot-Ettenauer et al., „Nuclear Charge Radii of the Nickel Isotopes 58-68,70Ni“, Phys. Rev. Lett. 128, 022502 (2022)
https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.128.022502

S. V. Pineda et al., „Charge Radius of Neutron-Deficient 54Ni and Symmetry Energy Constraints Using the Difference in Mirror Pair Charge Radii“, Phys. Rev. Lett. 127, 182503 (2021)
https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.127.182503

Über die TU Darmstadt
Die TU Darmstadt zählt zu den führenden Technischen Universitäten in Deutschland und steht für exzellente und relevante Wissenschaft. Globale Transformationen – von der Energiewende über Industrie 4.0 bis zur Künstlichen Intelligenz – gestaltet die TU Darmstadt durch herausragende Erkenntnisse und zukunftsweisende Studienangebote entscheidend mit.
Ihre Spitzenforschung bündelt die TU Darmstadt in drei Feldern: Energy and Environment, Information and Intelligence, Matter and Materials. Ihre problemzentrierte Interdisziplinarität und der produktive Austausch mit Gesellschaft, Wirtschaft und Politik erzeugen Fortschritte für eine weltweit nachhaltige Entwicklung.
Seit ihrer Gründung 1877 zählt die TU Darmstadt zu den am stärksten international geprägten Universitäten in Deutschland; als Europäische Technische Universität baut sie in der Allianz Unite! einen transeuropäischen Campus auf. Mit ihren Partnern der Rhein-Main-Universitäten – der Goethe-Universität Frankfurt und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz – entwickelt sie die Metropolregion Frankfurt-Rhein-Main als global attraktiven Wissenschaftsraum weiter.
www.tu-darmstadt.de

MI-Nr. 03/2022, sip

Originalpublikation:

S. Malbrunot-Ettenauer et al., „Nuclear Charge Radii of the Nickel Isotopes 58-68,70Ni“, Phys. Rev. Lett. 128, 022502 (2022)
https://doi.org/10.1103/PhysRevLett.128.022502

Media Contact

Claudia Staub Stabsstelle Kommunikation und Medien
Technische Universität Darmstadt

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Physik Astronomie

Von grundlegenden Gesetzen der Natur, ihre elementaren Bausteine und deren Wechselwirkungen, den Eigenschaften und dem Verhalten von Materie über Felder in Raum und Zeit bis hin zur Struktur von Raum und Zeit selbst.

Der innovations report bietet Ihnen hierzu interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Astrophysik, Lasertechnologie, Kernphysik, Quantenphysik, Nanotechnologie, Teilchenphysik, Festkörperphysik, Mars, Venus, und Hubble.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Größte bisher bekannte magnetische Anisotropie eines Moleküls gemessen

An der Berliner Synchrotronstrahlungsquelle BESSY II ist es gelungen, die größte magnetische Anisotropie eines einzelnen Moleküls zu bestimmen, die jemals experimentell gemessen wurde. Je größer diese Anisotropie ist, desto besser…

Tsunami-Frühwarnsystem im Indischen Ozean

20 Jahre nach der Tsunami-Katastrophe… Dank des unter Federführung des GFZ von 2005 bis 2008 entwickelten Frühwarnsystems GITEWS ist heute nicht nur der Indische Ozean besser auf solche Naturgefahren vorbereitet….

Resistente Bakterien in der Ostsee

Greifswalder Publikation in npj Clean Water. Ein Forschungsteam des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH) hat die Verbreitung und Eigenschaften von antibiotikaresistenten Bakterien in der Ostsee untersucht. Die Ergebnisse ihrer Arbeit…