Zwillinge, Drillinge und mehr

Falschfarbenbild der massereichen Sternentstehungsregion G333.23–0.06 aus Beobachtungsdaten des ALMA-Observatoriums.

© S. Li, MPIA / J. Neidel, MPIA Grafikabteilung/ Daten: ALMA Observatory

Beobachtungen bestätigen, dass massereiche Sterne als Mehrlinge geboren werden.

Seit langem geht man davon aus, dass massereiche Sterne als Zwillinge, Drillinge oder noch höhere Vielfachsysteme geboren werden. Jetzt konnte diese wichtige Rolle von Mehrlings-Sterngeburten erstmals durch systematische Beobachtungen bestätigt werden. Eine detaillierte Untersuchung mit dem ALMA-Radioobservatorium, bei der in einem massereichen Sternhaufen vier binäre Protosterne, ein Dreifach-, ein Vierfach- und ein Fünffachsystem gefunden wurden, bestätigt unser Verständnis der Entstehung massereicher Sterne: Solche Sterne werden tatsächlich sehr häufig als Mehrlinge geboren. Die Studie wurde jetzt in der Zeitschrift Nature Astronomy veröffentlicht.

Bei menschlichen Neugeborenen sind Mehrlinge selten. Weniger als 2 % aller Geburten sind Mehrlinge, meist Zwillinge. Bei massereichen Sternen hingegen gilt die Mehrlingsgeburt seit langem als die Norm. Das haben insbesondere Simulationen gezeigt, die den Kollaps riesiger Gas- und Staubwolken von den Anfängen bis zur Bildung einzelner Sterne im Wolkeninneren nachzeichneten: ein hierarchischer Prozess, bei dem sich größere Wolkenteile zu dichteren Kernregionen („cores“) zusammenziehen, in deren Inneren anschließend Sterne entstehen: massereiche Sterne, aber auch zahlreiche weniger massereiche Sterne. Auch unsere Sonne hat sich als massearmer Protostern in einem solchen massereichen Sternhaufen gebildet.

Massereiche Sterne, die mehr als das Achtfache der Masse unserer Sonne aufweisen, sind für die Astronomen aus mehreren Gründen besonders interessant: Aus ihnen entstehen Neutronensterne und Schwarze Löcher, einschließlich der Schwarzen Löcher, die verschmelzen und große Mengen an Gravitationswellen aussenden. Außerdem sind massereiche Sterne sehr hell, bis zu einer Million Mal heller als unsere Sonne. Das sind die Sterne, die wir noch über große Entfernungen sehen, eine Reihe davon sogar in anderen Galaxien.

Bisher gab es zwar ein gutes theoretisches Verständnis der Sternentstehung unter diesen Umständen, aber es fehlte die systematische Bestätigung durch Beobachtungen: Es ist sehr schwierig, in Sternentstehungsgebieten so kleine Details zu beobachten, dass sich Mehrfachsterne ausmachen lassen. Bisherige Beobachtungen konnten daher bisher nur einige wenige Kandidaten für isolierte Mehrfachsterne in massereichen Sternhaufen zeigen, aber nichts, was mit der von den Simulationen vorhergesagten wimmelnden Menge von Mehrfachsternen vergleichbar wäre.

ALMA-Beobachtungen eines massereichen Sternhaufens

Um die aktuellen Modelle für die Entstehung massereicher Sterne auf die Probe stellen zu können, waren genauere Beobachtungen erforderlich. Die Möglichkeit dazu wurde geschaffen, als in den 2010er Jahren das ALMA-Observatorium in Chile den Beobachtungsbetrieb aufnahm. In seiner jetzigen Form kombiniert ALMA bis zu 66 Radioantennen zu einem einzigen gigantischen Radioteleskop und ermöglicht so Radiobeobachtungen, die außergewöhnlich kleine Details zeigen. Unter der Leitung von Patricio Sanhueza vom japanischen Nationalobservatorium NAOJ und der Graduate University for Advanced Studies in Tokio und unter Beteiligung mehrerer Forscher des Max-Planck-Instituts für Astronomie (MPIA) in Heidelberg konnte eine Gruppe von Astronom*innen mit ALMA zwischen 2016 und 2019 dreißig vielversprechende massereiche Sternentstehungsregionen beobachten.

Die Auswertung der Daten war eine große Herausforderung und dauerte letztlich mehrere Jahre. Jede einzelne Beobachtung liefert rund 800 GB an Daten, und die Rekonstruktion der Bilder aus den Beiträgen der verschiedenen beteiligten Antennen ist bereits für sich genommen ein komplexer Prozess. Das jetzt veröffentlichte Ergebnis basiert auf der Analyse einer der beobachteten Sternentstehungsregionen; sie trägt die Katalognummer G333.23-0.06. Die Analyse wurde von Shanghuo Li vom MPIA geleitet, der auch der Hauptautor der jetzt in Nature Astronomy erschienenen Arbeit ist. Die rekonstruierten Bilder sind bemerkenswert: Sie zeigen Details bis hinunter zu etwa zweihundert Astronomischen Einheiten (dem 200-fachen der Entfernung zwischen Erde und Sonne) für eine große Region mit einem Durchmesser von rund 200.000 Astronomischen Einheiten.

Mehrlings-Sterne im Blick

Die Ergebnisse sind eine gute Nachricht für unser derzeitiges Verständnis der Entstehung massereicher Sterne. In G333.23-0.06 fanden Li und seine Kollegen nämlich ganze vier Doppelsternsysteme, dazu ein Dreifach-, ein Vierfach- und ein Fünffachsystem – in Übereinstimmung mit den Erwartungen. Die Details der Bilder begünstigen dabei sogar eines der Sternentstehungsmodelle gegenüber den anderen: Sie liefern Anzeichen für eine hierarchische Sternentstehung, bei der die Gaswolke zunächst in „Kerne“ („cores“) mit erhöhter Gasdichte zerfällt und in jedem dieser Kerne später ein Mehrfach-Proto-Sternsystem entsteht.

Henrik Beuther, Leiter der Sternentstehungsgruppe in der Abteilung Planeten- und Sternentstehung am Max-Planck-Institut für Astronomie, sagt: „Endlich konnten wir die Vielfalt an Mehrfach-Sternsystemen in einer massereichen Sternentstehungsregion direkt beobachten! Besonders spannend ist, dass die Daten sogar Unterstützung für ein spezifisches Szenario für die Entstehung massereicher Sterne liefen.“

Shanghuo Li, Astronom am Max-Planck-Institut für Astronomie und Erstautor der jetzt veröffentlichten Studie, fügt hinzu: „Unsere Beobachtungen scheinen darauf hinzudeuten, dass sich die Mehrfach-Systeme beim Kollaps der Molekül-Wolke recht früh bilden. Aber ist das wirklich der Fall? Um das beantworten zu können, schauen wir uns jetzt weitere Sternentstehungsgebiete, von denen einige noch jünger sind als G333.23-0.06.“ Konkret arbeiten die Astronomen derzeit an einer ähnlichen Analyse für die weiteren 29 massereichen Sternentstehungsgebiete, die sie beobachtet hatten. Bald sollen noch Daten zu weiteren 20 Systeme hinzukommen, aus neuen ALMA-Beobachtungen unter der Leitung von Li. Sind all diese Auswertungen fertig, lassen sich zum einen statistische Aussagen über die Mehrfach-Systeme treffen – ein weiterer Test der Modelle der Sternentstehung. Auch die Details der zeitlichen Entwicklung sollten sich klären lassen. Aber bereits mit den jetzt veröffentlichten Ergebnissen ist die Rolle von Mehrlings-Geburten bei der Bildung massereicher Sterne nun fest in der Beobachtung verankert.

Hintergrundinformationen

Die hier beschriebene Arbeit wurde veröffentlicht als Shanghuo Li et al., „Observations of high-order multiplicity in a high-mass stellar protocluster“ in der Zeitschrift Nature Astronomy.

Journalist*innen, die eine referierte Vorab-Kopie des Artikels benötigen, wenden sich bitte direkt an die Nature-Presseabteilung unter press@nature.com.

Die beteiligten MPIA-Forscher sind Shanghuo Li, Henrik Beuther und Thomas Henning, in Zusammenarbeit mit Kollegen vom National Astronomical Observatory of Japan, National Institutes of Natural Sciences, Tokyo, Japan; dem Department of Astronomical Science, School of Physical Science, SOKENDAI (The Graduate University for Advanced Studies), Tokyo, Japan; dem Institut für Astronomie und die Abteilung für Physik, Nationale Tsing Hua Universität, Hsinchu, Taiwan; der Fakultät für Physik, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland; des Origins Institute und der Abteilung für Physik und Astronomie, McMaster-Universität, Hamilton, Ontario, Kanada; dem Department of Earth, Environment, and Physics, Worcester State University, Worcester, MA, USA; dem Center for Astrophysics, Harvard & Smithsonian, Cambridge, MA, USA; dem Shanghai Astronomical Observatory, Chinesische Akademie der Wissenschaften, Shanghai, Volksrepublik China; dem Heidelberger Institut für Theoretische Studien, Heidelberg; der Graduate School of Informatics and Engineering, University of Electro-Communications, Tokyo, Japan; und der School of Astronomy and Space Science, Nanjing-Universität, Volksrepublik China.

Das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) ist eine internationale astronomische Einrichtung, die gemeinsam von der ESO, der US-amerikanischen National Science Foundation (NSF) der USA und den japanischen National Institutes of Natural Sciences (NINS) in Kooperation mit der Republik Chile betrieben wird. Getragen wird ALMA von der ESO im Namen ihrer Mitgliedsländer, von der NSF in Zusammenarbeit mit dem kanadischen National Research Council (NRC), dem Ministry of Science and Technology (MOST) und NINS in Kooperation mit der Academia Sinica (AS) in Taiwan sowie dem Korea Astronomy and Space Science Institute (KASI). Bei Entwicklung, Aufbau und Betrieb ist die ESO federführend für den europäischen Beitrag, das National Radio Astronomy Observatory (NRAO), das seinerseits von Associated Universities, Inc. (AUI) betrieben wird, für den nordamerikanischen Beitrag und das National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) für den ostasiatischen Beitrag. Dem Joint ALMA Observatory (JAO) obliegt die übergreifende Projektleitung für den Aufbau, die Inbetriebnahme und den Beobachtungsbetrieb von ALMA.

Medienkontakt

Dr. Markus Pössel
Leitung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg
Tel.: +49 6221 528-261
E-Mail: pr@mpia.de

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Shanghuo Li
Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg
Tel.: +49 6221 528-328
E-Mail: li@mpia.de

Dr. Henrik Beuther
Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg
Tel.:+49 6221 528-447
E-Mail: beuther@mpia.de

Originalpublikation:

Shanghuo Li, Henrik Beuther, et al., “Observations of high-order multiplicity in a high-mass stellar protocluster”, Nature Astronomy (2024)

Weitere Informationen:

https://www.mpia.de/aktuelles/wissenschaft/2024-02-multiplicity-starformation – Originalpressemitteilung des MPIA

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Dr. Markus Pössel (MPIA Presse- und Öffentlichkeitsarbeit) Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Astronomie

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