435.000 Menschen in Deutschland nahezu chancenlos am Arbeitsmarkt
Wissenschaftler des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz haben den potenziellen Personenkreis definiert und berechnet. Ergebnis: Mehr als 435.000 Menschen in Deutschland sind so „arbeitsmarktfern“, dass ihre Chancen auf einen regulären Arbeitsplatz gegen Null gehen. Gleichzeitig zeigen diese Menschen eine hohe Arbeitsmotivation und fühlen sich zunehmend gesellschaftlich ausgegrenzt. Zusammen mit ihnen leben mehr als 300.000 Kindern, die von der Situation ihrer Eltern betroffen sind.
Je mehr sich die Arbeitslosigkeit abbaut, desto deutlicher wird: Es bleibt ein Kreis von Arbeitslosen, die so „arbeitsmarktfern“ sind, dass sie kaum Perspektiven auf einen regulären Arbeitsplatz haben. Bei diesen Personen können öffentlich geförderte Arbeitsplätze helfen, erste Schritte in Richtung regulärer Arbeitsverhältnisse zu machen und gesellschaftliche Ausgrenzung zu überwinden.
Doch wie groß ist der Personenkreis der Arbeitsmarktfernen überhaupt und was bedeutet „arbeitsmarkfern“? Die Schätzungen reichten bisher von etwa 50.000 bis zu rund einer Million Menschen. Aktuelle und statistisch verlässliche Zahlen lagen allerdings nicht vor. Diese Lücke schließt nun eine Studie des Instituts für Bildungs- und Sozialpolitik (IBUS) der Hochschule Koblenz in Zusammenarbeit mit der Initiative Pro Arbeit. Unter der Leitung von Prof. Stefan Sell haben Tim Obermeier und Birte Tiedemann den Personenkreis definiert und ihre Größe statistisch repräsentativ berechnet. Grundlage ist das jährlich durchgeführte Panel Arbeitsmarkt und Soziale Sicherung (PASS) des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), für das mehr als 15.000 Personen in 10.000 Haushalten befragt werden. Das Ergebnis: Über 435.000 Menschen in Deutschland gelten als arbeitsmarktfern und können damit zur Zielgruppe für öffentlich geförderte Beschäftigung gezählt werden.
Arbeitsmarktferne Menschen mit extrem geringen Chancen am Arbeitsmarkt definieren die Wissenschaftler dabei als Arbeitslosengeld II-Bezieher zwischen 26 und 60 Jahren, die zum Befragungszeitpunkt und auch in den vorherigen drei Jahren überwiegend (mehr als 90 Prozent der Zeit) nicht gearbeitet haben. Haben diese Personen zusätzlich mindestens vier so genannte „Vermittlungshemmnisse“, zählen sie zu der Zielgruppe. Das Forscherteam identifiziert neun zentrale Hemmnisse, wie gesundheitliche Einschränkungen oder ein fehlender Schul- und Ausbildungsabschluss Diese Hemmnisse erschweren den Zugang zum Arbeitsmarkt deutlich, besonders wenn sie gehäuft auftreten.
Diese Eingrenzung sei allerdings sehr restriktiv, erklärt Prof. Dr. Stefan Sell, Direktor des IBUS und Leiter der Studie. Zahlreiche persönliche Vermittlungshemmnisse, beispielweise das äußere Erscheinungsbild oder Suchtverhalten seien statistisch auch mit PASS nicht zu erfassen. Die berechnete Zahl von mehr als 435.000 Personen sei daher als „Untergrenze der Grundgesamtheit für öffentlich geförderte Beschäftigung“ zu verstehen.
Neben der Größe des für öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnahmen infrage kommenden Personenkreises untersuchten die Forscher auch den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Sozialer Teilhabe. Das Ergebnis: Beschäftigungslose fühlen sich weniger als Teil der Gesellschaft. Arbeitslosigkeit führe also zu einer wahrgenommenen gesellschaftlichen Ausgrenzung. Dieses Gefühl werde zudem stärker, je länger die Menschen bereits ohne Arbeit sind.
Hinzu komme, dass Arbeit für Beschäftigungslose einen hohen Stellenwert einnehme. Der Aussage: „Arbeit zu haben ist das wichtigste im Leben“ stimmen sie sogar deutlich stärker zu als Beschäftigte, heißt es in der Studie. Von einer mangelnden Arbeitsmotivation könne also nicht gesprochen werden. Gleiches gelte für die These vom Einrichten in der Arbeitslosigkeit, denn „mit zunehmender Dauer der Beschäftigungslosigkeit nimmt die Arbeitsmotivation nicht ab, sondern bleibt auf hohem Niveau“.
Die Forscher resümieren daher: Vor dem Hintergrund der hohen Arbeitsbereitschaft und der gesellschaftlichen Exklusion, die die Arbeitsmarktfernen erleben, ginge es bei der Diskussion um das Für und Wider eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors daher in erster Linie um die Frage, ob eine „teilhabeorientierte Ausgestaltung der Arbeitsmarktpolitik“ gewünscht sei, oder man den „harten Kern der Langzeitarbeitslosen im passiven Transferleistungsbezug auf Dauer stilllegen“ wolle. Diese Frage sei auch deshalb von höchster Brisanz, weil in den Haushalten der arbeitsmarktfernen Personen über 300.000 Kindern leben, die von der Langzeitarbeitslosigkeit der Eltern betroffen sind.
Insgesamt sei es unhaltbar, dass sich öffentlich geförderte Beschäftigung inzwischen nahezu ausschließlich auf die umgangssprachlichen „Ein-Euro-Jobs“ beschränke, die nur kurzfristige Beschäftigung der Betroffenen ermöglichen und zudem in ihrer Ausgestaltung nichts mit regulären Arbeitsplatzverhältnissen zu tun hätten. Nötig sei ein ganzes „Spektrum an ineinander greifenden Förderoptionen“, darunter auch, aber nicht nur die „Ein-Euro-Jobs“, sondern auch höherwertige sozialversicherungspflichtige und längerfristige Arbeitsverhältnisse als freiwilliges Angebot an die potentiellen Teilnehmer, erläutert Prof. Dr. Stefan Sell.
Die Studie kann auf www.rheinahrcampus.de/ibus heruntergeladen werden.
Für weiterführende Informationen wenden Sie sich bitte an:
Dipl. Sozw. Tim Obermeier
Institut für Bildungs- und Sozialpolitik – IBUS
Hochschule Koblenz
Campus Remagen
Joseph-Rovan-Allee 2
53424 Remagen
Tel.: 02642/932-397
E-Mail: obermeier@rheinahrcampus.de
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