Ärzte setzen starke Schmerzmittel differenziert und rational ein
Die Angst vor Sucht und Nebenwirkungen stark wirksamer Schmerzmittel – Morphin und seinen synthetischen Abkömmlingen – war und ist in vielen Ländern noch immer der Grund dafür, dass Millionen Menschen unter stärksten Schmerzen leiden. Darum entwickelte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1986 den Stufenplan für die Schmerztherapie.
Dieser Stufenplan – ursprünglich konzipiert zur Behandlung von Krebsschmerzen – empfiehlt auf Stufe III bei starken Schmerzen auch starke Schmerzmittel vom Morphintyp.
Seitdem hat sich die Situation von Schmerzpatienten – vor allem in den Industrienationen – deutlich verbessert. Neue pharmazeutische Darreichungsformen und synthetische Abkömmlinge des Morphins mit verbesserten Nutzen-Risiko-Profilen kamen auf den Markt. Hinzu kamen neue Erkenntnisse über die Entstehung und Behandlung chronischer Schmerzen. Darum verordnen Ärzte Opioide mittlerweile nicht nur gegen Krebsschmerzen, sondern ebenso bei anderen starken (nicht-tumorbedingten) Schmerzen – falls erforderlich auch für längere Zeit.
Diese Praxis rief in den letzten Jahren Kritiker auf den Plan. Seitdem wogt der Expertenstreit, ob auch bei nicht-tumorbedingten Schmerzen der (längerfristige) Einsatz starker Opioide gerechtfertigt ist. „Die Debatte und eine umstrittene Leitlinie führten dazu, dass Krankenkassen und kassenärztliche Prüfgremien die Therapie zunehmend hinterfragten und oft genug auch ablehnten“, berichtet der Nürnberger Schmerzmediziner PD Dr. Michael A. Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie und Präsident der Deutschen Schmerzliga.
4283 ÄRZTE GABEN AUSKUNFT. Darum startete die Gesellschaft für Schmerztherapie Ende 2012 eine Online-Querschnittbefragung. Rund 12.000 schmerztherapeutisch tätige Ärzte verschiedener Fachrichtungen, die für ca. 80 Prozent aller Opioid-Verordnungen in Deutschland verantwortlich sein dürften, wurden gebeten, über ihre Erfahrungen mit stark wirksamen Opioid-Analgetika in der Behandlung chronischer Schmerzen zu berichten. 4283 Ärzte beantworteten die insgesamt 157 Fragen eines strukturierten elektronischen Interviews.
„Entgegen anderslautender Mutmaßungen aus jüngster Zeit belegt unsere Befragung dass schmerztherapeutisch tätige Ärzte rational und differenziert mit stark wirksamen Opioiden umgehen“, resümiert Überall die Studienergebnisse. Standard sei bei nicht-tumorbedingten Schmerzen die vorübergehende Behandlung über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten. Längerfristige Therapien würden von regelmäßigen Effizienzüberprüfungen begleitet, Mono-therapien seien die Ausnahme. „Üblicherweise werden starke Opioide in Kombination mit physio- und psychotherapeutischen Maßnahmen oder im Rahmen multimodaler Komplextherapien eingesetzt“, betont Überall, dessen Institut für Neurowissenschaften, Algesiologie & Pädiatrie (IFNAP) die Untersuchung durchgeführt hat. Die Ärzte würden die zu erwartenden Erfolge der medikamentösen Therapie auch realistisch einschätzen und gezielt nutzen: Die Medikamente ermöglichen es den Patienten, andere Therapieangebote wahrzunehmen.
RELEVANTE PROFILUNTERSCHIEDE. „Nebenwirkungen, die auch zum Therapieabbruch führen können, stellen unverändert das Hauptproblem stark-wirksamer Opioide dar“, sagt Überall. Allerdings zeigt die Befragung der Ärzte, dass es bei den Nebenwirkungsprofilen relevante Unterschiede zwischen den verschiedenen Wirkstoffen gibt, die auch für die Therapietreue der Patienten wichtig sind. So bewerten die Ärzte beispielsweise das Kombinationspräparat Oxycodon/Naloxon aufgrund seines Profils deutlich positiver als das Opioid Oxycodon als Monopräparat oder Morphin.
STUDIENDETAIL: WANN OPIOIDE? Gefragt nach der Sinnhaftigkeit der Verordnung stark wirksamer Opioid-Analgetika bei verschiedenen Indikationen bzw. Schmerzsyndromen nannten 93,1% der Ärzte Tumorschmerzen als häufigste Indikation. 42,3% halten Opioide bei Osteoarthrose, knapp ein Viertel (23,5%) bei Kreuz-/Rücken-/Schulter-/Nackenschmerzen für sinnvoll. 18,1% der Mediziner befürworten Opioide bei neuropathischen Schmerzen, 6,2% bei Fibromyalgie. Gegen Kopfschmerzen würde nur eine verschwindend geringe Minderheit (1,7%) Opioide verordnen, bei sonstigen Schmerzen würden dies 7,2% der Ärzte tun.
STUDIENDETAIL: VERORDNUNGSQUOTEN. Diese Einschätzung der Ärzte spiegelte sich wieder in den Verordnungsquoten starker Opioid-Analgetika in dem der Befragung vorangegangenen 2. Quartal 2012. 62,1% der Ärzte hatten starke Opioide bei Tumorschmerzen verordnet, jeder vierte Arzt (25,4%) bei Patienten mit Osteoarthrose und jeder fünfte (19,5%) bei Kreuz-/Rücken-/Schulter-/ Nackenschmerzen. 17,1% der Schmerztherapeuten hatten die Medikamente bei neuropathischen Schmerzen rezeptiert, 6,4% bei Fibromyalgie und 3% bei Kopfschmerzen. Sonstige Schmerzen waren für 10,2% der Ärzte Anlass für ein BTM-Rezept gewesen.
STUDIENDETAIL: WIE WERDEN OPIODE EINGESETZT? Auf die gezielte Nachfrage nach den Umständen der Opioidverordnung bei Kreuz-/Rückenschmerzen gaben nur 16,5% der Ärzte an, dass diese als Monotherapie erfolgt; 59,9% verordnen Opioide in Kombination mit physio- und psychotherapeutischen Maßnahmen und 23,6% setzen die starken Schmerzmittel im Rahmen einer multimodalen Komplextherapie ein.
STUDIENDETAIL: ERWARTUNG DER ÄRZTE AN DIE THERAPIE. Realistisch sind die Erwartungen der Ärzte an die positiven und negativen Behandlungseffekte der Opioid-Therapie bei Patienten mit Kreuz-/Rückenschmerzen. Bei etwas mehr als zwei Drittel ihrer Patienten (67,5%) verzeichneten die Ärzte eine mindestens 50%ige Schmerzlinderung. Bei mehr als der Hälfte der Patienten lindert die Therapie die Schmerzen so, dass die Patienten wieder in der Lage waren, überhaupt alternative, vor allem physiotherapeutische Therapien wahrnehmen können.
STUDIENDETAIL: NEBENWIRKUNGEN. Die beobachteten unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) sowie die daraus resultierenden Einschränkungen der Teilhabe am alltäglichen Leben der Patienten bewerten die Ärzte differenziert. Auf einer Skala zwischen „0“ (keine Beeinträch-tigungen) und „100“ (maximale Beeinträchtigung) landete die Obstipation im Durchschnitt bei einem Wert von 46,1, Leistungsminderung bei 15,9, Harnverhalt bei 11,3, Juckreiz bei 9,2, hormonelle Störungen bei 6,1 und Immunschwäche bei 4,4. Wegen UAW der starken Opioide waren 12,3% der Patienten vorübergehend und 8,1% anhaltend arbeitsunfähig. 3,7% der Patienten verloren aus diesen Gründen ihren Arbeitsplatz, 7,3% gerieten in soziale, 6,2% in familiäre Schwierigkeiten.
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