Die Sprachenvielfalt ist in Gefahr – Linguist dokumentiert bedrohte Sprache der Awetí-Indianer
Neunzig Prozent der weltweit etwa 6.000 Sprachen werden in unserem Jahrhundert verloren gehen. DOBES (Dokumentation bedrohter Sprachen) heißt ein Programm der VolkswagenStiftung, das dafür sorgen soll, dass Sprachen nicht spurlos von der Bildfläche verschwinden. Sebastian Drude, ein Linguist der Freien Universität Berlin, hat sich in diesem Rahmen der Sprache des brasilianischen Indianerstammes der Awetí angenommen und für deren Dokumentation bereits viermal längere Zeit Feldforschung vor Ort betrieben. Als bisher einziger Europäer verbrachte er mehrere Monate im Dorf der Awetí und wurde dabei so sehr zu einem Teil der Dorfgemeinschaft, dass der Häuptling des Stammes ihn sogar offiziell adoptierte.
Das Dorf der Awetí liegt im Gebiet der Quellflüsse des Xingú, eines der großen Zuflüsse des Amazonas. Etwa zwölf verschiedene Indianerstämme mit einer vergleichbaren Kultur, aber völlig unterschiedlichen Sprachen haben sich hier angesiedelt. Das Awetí gehört zu den Tupi-Sprachen, eine der größten Sprachfamilien in Südamerika, zu der etwa 55 bis 60 Sprachen zählen. Allerdings hat das Awetí unter diesen einen Stellenwert, der mit dem des Griechischen oder Ungarischen innerhalb der europäischen Sprachen vergleichbar ist: Sie ist ziemlich isoliert und steht zu keiner anderen Sprache in einem besonderen verwandtschaftlichen Verhältnis.
Es ist erstaunlich, dass Awetí heute überhaupt noch existiert, da in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts nur noch etwa zwei Dutzend Sprecher am Leben waren. Ihren Nachwuchs schickten sie zur Schule in die Stadt, wo der Unterricht natürlich in der Amtssprache Portugiesisch stattfand. Aus Angst vor Diskriminierung leugneten die Kinder ihre Herkunft und versuchten sich so gut wie möglich anzupassen, was sie natürlich nur bedingt vor der Ausgrenzung schützte. Die Awetí erkannten bald selbst, dass ihre Kultur und Sprache in Gefahr waren und wandten sich an Sebastian Drude, der damals Gastforscher am Museu Goeldi in Belém und seinerseits auf der Suche nach einer ethnische Gruppe war, deren Sprache er dokumentieren konnte. Dem Berliner Linguisten ist es zu verdanken, dass die kommenden Generationen Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen in der eigenen Sprache erhalten und dazu das Dorf dazu nicht mehr verlassen müssen. Um das Awetí dokumentieren und Zeugnisse davon anfertigen zu können, hat Drude nämlich eine Orthografie für diese Sprache entwickelt und die erste Fibel erstellt, die nun für den Unterricht in der neu erbauten Dorfschule benutzt werden kann. Zur Zeit werden alle Sprösslinge in ihrer Muttersprache Awetí erzogen.
Im Vordergrund des DOBES-Projekts stehen allerdings nicht spracherhaltende Maßnahmen, sondern – wie der Name schon sagt – die Dokumentation der gefährdeten Sprache. Mit Hilfe von Tonband und Videokamera zeichnet Sebastian Drude Monologe von indianischen Sprechern auf. „Ich lasse sie über ganz verschiedene Dinge berichten“, sagt der Linguist. „Während einer mir den Mythos von der Möwe und dem Maniok erzählt, beschreibt mir ein anderer den Ablauf eines Hausbaus.“ Die Audio- und Video-Aufnahmen transkribiert Drude und zerlegt das schriftlich Fixierte dann in die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache, die Morpheme. Die Tatsache, dass das Awetí nicht von Grund auf über eine standardisierte Orthografie verfügt, erschwert die Transkription erheblich. Sebastian Drude und Prof. Hans-Heinrich Lieb von der Freien Universität haben im Jahr 2000 ein spezielles Glossierungsformat für die Sprachdokumentation entwickelt, in dem sämtliche linguistischen Aspekte berücksichtigt werden. Trotzdem benötigt Drude für die Transkription einer einminütigen Audio- oder Videoaufnahme etwa zwei Stunden. Audio-, Video- und Textdaten gehen an die zentrale Datenbank des Projektes, die sich am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen befindet. Dort wird an einer Lösung für die dauerhafte Archivierung der Daten gearbeitet.
Selbst wenn das Awetí irgendwann dem übermäßigen Druck des Portugiesischen nicht mehr standhalten sollte: Sebastian Drude sorgt mit seiner Arbeit dafür, dass die Existenz dieser Sprache auch nach ihrem Verschwinden nachgewiesen werden kann. Die Dorfbewohner danken ihm seinen Einsatz mit der vollständigen Integration in ihre Dorfgemeinschaft. Aus der Arbeitsbeziehung ist eine Freundschaft geworden, die sämtlichen kulturellen und sprachlichen Barrieren zu überwindet.
Franziska Garbe
Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Sebastian Drude, M.A., Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-54233, E-Mail: sebadru@zedat.fu-berlin.de
Prof. Dr. Hans-Heinrich Lieb, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-52973
Media Contact
Weitere Informationen:
http://www.mpi.nl/DOBESAlle Nachrichten aus der Kategorie: Studien Analysen
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