Tsunami im Gehirn

Nach einem Schlaganfall sind auch nicht betroffene Hirnareale gefährdet: Wellen elektrischer Erregung entstehen am Rand des abgestorbenen Gewebes und überziehen die angrenzenden Hirnregionen. Wiederholen sich diese Entladungen, sterben weitere Zellen ab. Bislang war dies nur im Tiermodell beobachtet worden.

Erstmals hat eine klinische Studie der Universitätsklinika Köln und Heidelberg sowie des Max-Planck-Instituts für neurologische Forschung in Köln gezeigt: Dieses Phänomen tritt nach einem Schlaganfall beim Menschen auf und ist ein Warnsignal für das weitere Absterben von Nervenzellen. Die Studie, die im Juni 2008 in der renommierten Fachzeitschrift „Annals of Neurology“ veröffentlicht worden ist, macht damit Forschung aus mehr als 60 Jahren für Diagnose und Therapie von Schlaganfallpatienten nutzbar.

Mehr als 150.000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland einen Schlaganfall,
die zweithäufigste Todesursache in den Industrieländern. Verschließen Ablagerungen die Blutgefäße zum Gehirn, werden einzelne Bereiche des Gehirns nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, das Gewebe stirbt ab.

Je nach Größe des betroffenen Hirnbereichs, sterben die Betroffenen oder tragen Dauerschäden, wie Lähmungen, davon.

Entladungswellen erstmals bei Schlaganfallpatienten nachgewiesen

Die elektrischen Entladungswellen im Gehirn – sogenannte „Cortical Spreading Depressions“ (CSD) – konnten lange nur im Tiermodell untersucht werden. Viele Merkmale sind daher von Tieren bekannt: Auf die Welle elektrischer Entladungen, die sich mit zwei bis fünf Millimetern pro Minute ausbreitet, folgt Schweigen – die Gehirnaktivität kommt kurz zum Erliegen.

In dieser Zeit versuchen sich die Nervenzellen zu erholen, ein Kraftakt: „Diese Wellen wirken um ein Vielfaches gravierender auf die Nervenzellen als ein epileptischer Anfall“, sagt Professor Dr. Rudolf Graf vom Max-Planck-Institut für neurologische Forschung und Mitbegründer der international arbeitenden Studiengruppe COSBID (Cooperative Study on Brain Injury Depolarisations).

„Nach dem Schlaganfall ist das Gewebe rund um das betroffene Hirnareal zunächst schlecht durchblutet, aber noch zu retten“, erklärt Dr. Christian Dohmen von der Klinik für Neurologie der Uniklinik Köln. Die Entladungswellen beeinträchtigen den Stoffwechsel der geschwächten Nervenzellen zusätzlich: „Je häufiger solche Wellen auftreten, desto länger brauchen die Nervenzellen, um sich wieder zu erholen, bis sie schließlich ganz absterben“, sagt der Erstautor der Studie. In welchem Ausmaß das Gehirn nach einem Schlaganfall geschädigt wird, hängt also von der Anzahl der Entladungswellen ab. Dieser Zusammenhang zeichnet sich auch beim Menschen ab.

Erkenntnisse aus 60 Jahren Forschung nun für Therapie von Schlaganfallpatienten nutzbar

Die Entladungswellen, die von Mitgliedern der COSBID Studiengruppe um Privatdozent Dr. Jens Dreier an der Charité in Berlin auch nach Blutungen am Gehirn gemessen wurden, können nur auf der Hirnoberfläche gemessen werden. Die Mediziner wählten daher für die Studie 16 Patienten aus, deren Gehirn nach einem Schlaganfall wegen einer lebensbedrohlichen Hirnschwellung teilweise freigelegt werden musste. Elektroden wurden an der Hirnoberfläche rund um das betroffene Gewebe angelegt (Elektrokortikografie), die Operationsnaht verschlossen und die Hirnströme über fünf Tage gemessen. Alle Patienten befanden sich in dieser Zeit aufgrund ihrer schweren Erkrankung im künstlichen Koma.

„Mit unserer Studie beenden wir die Diskussion, ob diese Wellen nach einem Schlaganfall auch im menschlichen Gehirn auftreten“, sagt Dr. Oliver Sakowitz, Arzt in der Neurochirurgischen Universitätsklinik Heidelberg und Mitautor der Studie. Nun stellt sich die Frage, wie man sie verhindert oder wenigstens eindämmt. „Da sie das geschwächte Gewebe rund um das Gebiet des Hirnschlags zusätzlich schädigen, wäre es denkbar, dass wir Folgeschäden vorbeugen können, indem wir die Wellen unterdrücken“, sagt der Neurochirurg.

In früheren experimentellen Studien an Tieren wurden bereits einige Therapieansätze entwickelt, auf die die Mediziner nun zurückgreifen können.
„Die Entladungswellen sind ebenso ein Warnsignal, dass weitere Gehirnareale unmittelbar gefährdet sind, und lassen sich daher eventuell auch für die Diagnostik nutzen“, so Dr. Sakowitz. In einer Folgestudie mit einer größeren Zahl an Schlaganfall-Patienten will das COSBID-Team unter der Federführung von

Dr. Christian Dohmen zudem klären, ob die Entladungswellen das Ausmaß der Folgeschäden, wie z. B. Lähmungen, beeinflusst.

Literatur:
Dohmen C, Sakowitz OW, Fabricius M, Bosche B, Reithmeier T, Ernestus RI, Brinker G, Dreier JP, Woitzik J, Strong AJ, Graf R; Members of the Co-Operative Study of Brain Injury Depolarisations (COSBID). Spreading depolarizations occur in human ischemic stroke with high incidence.Ann Neurol. 2008 May 21. (erscheint in der Juniausgabe 2008)
Kontakt in Köln:
Dr. Christian Dohmen
Klinik und Poliklinik für Neurologie
der Uniklinik Köln
Christian.dohmen@uk-koeln.de
Tel.: 0221 478 4029
Sina Vogt
Pressesprecherin Uniklinik Köln
Kontakt in Heidelberg:
Dr. Oliver Sakowitz
Neurochirurgische Universitätsklinik Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400
69120 Heidelberg
Tel.: 06221 / 56 36172
E-Mail: oliver.sakowitz@med.uni-heidelberg.de
Dr. Annette Tuffs
Leiterin
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
des Universitätsklinikums Heidelberg
und der Medizinischen Fakultät
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