Schwerbehindert und trotzdem fähig und fit für den Beruf? – Arbeitsmarktuntersuchung des IAT
Sozialrechtliche Konstrukte überdecken die Vielfalt von beruflichen Schicksalen: „Außer dem Ausweis haben sie wenig gemein…“
Wer schwerbehindert ist, ist noch lange nicht berufsunfähig – und die überwiegende Mehrheit der Schwerbehinderten in Deutschland will arbeiten und ist auch – oder war – erwerbstätig. „Weniger das Etikett „Schwerbehinderung“ als vielmehr die Schul- und Berufsausbildung bilden den Schlüssel zu Berufsschicksal und Erwerbstätigkeit,“ stellt Prof. Heiner Treinen, Gastwissenschaftler am Institut Arbeit und Technik (IAT/Gelsenkirchen), im soeben erschienenen IAT-Report 2002-07 fest. Wie eine repräsentative Untersuchung zur beruflichen Situation schwerbehinderter Menschen im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Clubs Behinderter und ihrer Freunde (BAG cbf) zeigt, besitzt ein Großteil schwerbehinderter Menschen professionelle Fähigkeiten und übt einen Beruf aus.
Insgesamt sind mehr als 50 Prozent der in der Studie Befragten berufstätig; weniger als 10 Prozent waren es noch nie (dabei 3,2 Prozent Auszubildende mitgerechnet). Ca. 80 Prozent der Berufstätigen sind im „ersten Arbeitsmarkt“ beschäftigt; in geförderten Beschäftigungen befinden sich ca. 20 Prozent, vorwiegend Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Werkstätten für Behinderte. Nicht erwerbstätige Befragte finden sich vor allem in den höheren Altersgruppen: 48 Prozent der Nicht-Erwerbstätigen sind älter als 50 Jahre; ein Großteil von ihnen leidet unter spät erworbenen Schwerbehinderungen. Die als arbeitslos gemeldeten Schwerbehinderten rekrutieren sich mehrheitlich aus dieser Kategorie; allerdings streben lediglich 24 Prozent von ihnen tatsächlich einen Arbeitsplatz an. „Hier zeigt sich, dass „Arbeitslosigkeit“ ein sozialrechtliches Konstrukt mit vielfältigen Inhalten über die Registrierung der Arbeitssuche hinaus darstellt, das kaum eine realistische Einschätzung des Potenzials von Nachfragern nach Arbeit erlaubt“, so Treinen.
Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen ist weniger das Etikett „Schwerbehinderung“ als vielmehr die schulische und berufliche Ausbildung der Schlüssel zu Berufsschicksal und Erwerbstätigkeit. Der Bildungsstand der Befragten (ohne geistig und lernbehinderte Befragte) entspricht dem der Gesamtbevölkerung; der Anteil behinderter Menschen ohne Hauptschulabschluss ist sogar niedriger. Schon beim Einstieg ins Berufsleben türmen sich jedoch Barrieren: behindertengerechte Ausstattungen in Ausbildungseinrichtungen fehlen zumeist, so dass schwerbehinderte Schüler und Auszubildende – insbesondere Blinde, Gehörlose und Rollstuhlfahrer – trotz vorhandener kognitiver Voraussetzungen häufig am Unterricht nicht teilnehmen können.
Die Art der Behinderung ist auch entscheidend für die Art des Beschäftigungsverhältnisses: Während erwerbstätige gehbehinderte, gehörlose und psychisch behinderte Menschen sowie Rollstuhlfahrer zu mehr als 80 Prozent einer regulären Beschäftigung nachgehen, gilt dies für lernbehinderte Arbeitnehmer lediglich in einer Größenordnung von etwa 40, bei geistig Behinderten von etwa 30 Prozent. Die Mehrzahl der Schwerbehinderten dieser Kategorien sind in verschiedenen Arten geförderter Beschäftigung, vor allem in Behindertenwerkstätten tätig.
Die Berufstätigkeit schwerbehinderter Menschen ist vor allem vom aktuellen Alter, dem Alter bei Eintritt der Behinderung sowie vom Grad schulischer und beruflicher Ausbildung abhängig. Im beruflichen Alltag und im direkten Kontakt mit den Arbeitskollegen schwinden Vorurteile oder kommen erst gar nicht auf: die Befragten betonen zu einem hohen Prozentsatz das problemfreie, gute Verhältnis zu Kollegen am Arbeitsplatz. Wenn von Problemen berichtet wird, dann beziehen sich diese überwiegend auf Beziehungen zu Vorgesetzten oder auf Erfahrungen bei der Jobsuche.
Ob schwerbehinderte Arbeitnehmer beschäftigt werden oder nicht, scheint weitgehend von der Einstellung der Firmenleitungen abhängig zu sein. Wer unvertraut mit schwerbehinderten Menschen ist, assoziiert eher voraussichtliche Schwierigkeiten beim Umgang mit ihnen; dies gilt auch für Arbeitgeber, vor allem im mittelständischen Bereich. Erwartete Diskriminierungen schlagen sich in der Selbsteinschätzung der Behinderten nieder: In den Augen der Mehrheit von schwerbehinderten Menschen sind am Arbeitsplatz Zuverlässigkeit und freundliche Zurückhaltung gegenüber Kollegen gefragt; zur Bewältigung des Alltags hingegen kommt die durchaus vorhandene eigene Kreativität und Flexibilität bei der Umgehung von Barrieren und der Aktivierung der nichtbehinderten Umwelt zum Tragen.
Die Definition „Schwerbehinderung“ ist eine amtliche Festlegung, die als Hilfestellung für Menschen mit schweren Handicaps dient, sie hat jedoch eine Nebenwirkung: sie „etikettiert“ die Betroffenen als Personen, denen man die individuelle Bewältigung zentraler Lebensaufgaben, vor allem im Beruf, kaum zutraut. Der Vielfalt der Lebensläufe und dem Selbstverständnis über die Einsatzfähigkeiten behinderter Menschen wird dieses sozialrechtliche Konstrukt nicht gerecht. Die Untersuchungsergebnisse zeigen deutlich, dass schwerbehinderte Berufstätige sich nicht als eine Sonderkategorie der Bevölkerung betrachten: „Schwerbehinderte“ als Kategorie von Menschen mit ähnlichen Eigenschaften gibt es nicht. Schwerbehinderte Berufstätige vergleichen sich mit Berufskollegen und nicht mit anderen behinderten Arbeitnehmern; sie betonen überdies ausdrücklich die Fähigkeit zu normalen Arbeitsleistungen. Die Krankheitsstatistik stützt diese Selbsteinschätzung: Krankheitsbedingte Fehlzeiten sind bei nicht behinderten und schwerbehinderten Berufstätigen gleich häufig.
Der IAT-Report von Heiner Treinen „Außer dem Ausweis haben sie wenig gemein…- Schwerbehinderte Menschen auf dem Arbeitmarkt“ ist unter http://iat-info.iatge.de/iat-report/2002/report2002-07.pdf kostenlos erhältlich.
Für weitere Fragen steht
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Prof. Dr. Heiner Treinen
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