Wirtschaftskriminalität während der Wiedervereinigung
Juristen der Universität Münster starten Forschungsprojekt
Wie hoch der Schaden ist, der durch Wirtschaftskriminalität im Rahmen der Wiedervereinigung entstanden ist, lässt sich heute nicht mehr sagen. Auf mindestens 20 Milliarden Mark schätzen Experten die Vermögensschäden, die Bund, Länder und Kommunen hinnehmen müssen. Inzwischen ist ein Großteil dieser Delikte, Betrug und Untreue etwa, verjährt. Doch ein Forschungsprojekt der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Klaus Boers und Prof. Dr. Ursula Nelles von der Universität Münster wird jetzt mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) der Verbreitung und strafrechtsorientierten Kontrolle der im Zusammenhang mit der Privatisierung der DDR-Betriebe aufgetretenen Wirtschaftskriminalität auf den Grund gehen. Angelegt ist es auf drei Jahre.
Das Projekt steht in einem größeren Zusammenhang von kriminalsoziologischen und kriminologischen Untersuchungen über den sozialen Umbruch in den neuen Bundesländern, für die seit 1990 mehrere Bevölkerungsbefragungen zur allgemeinen Kriminalitätsentwicklung im Dunkelfeld durchgeführt wurden. Bei dem gegenwärtigen Forschungsvorhaben soll es nun erstmals spezifisch um die umbruchsbedingte Wirtschaftskriminalität gehen. Dabei interessieren sowohl die strukturellen, vornehmlich ökonomischen Bedingungen, unter denen strafbare Handlungen begangen beziehungsweise die Kontrollmaßnahmen eingeleitet wurden, als auch die Funktionen oder Dysfunktionen, die Kriminalität und strafrechtliche Kontrolle für das Wirtschaftssystem haben können.
„Es geht also nicht primär um den strafrechtlich relevanten individuellen Schuldvorwurf“, erläutert Boers, Leiter der Abteilung IV im Kriminalwissenschaftlichen Institut. Vielmehr bilde der Privatisierungsvorgang lediglich den Hintergrund, vor dem die Erfahrungen und Einschätzungen der beteiligten Experten erhoben werden sollen. Ausgangspunkt der empirischen Erhebung sind strafrechtlich relevante Privatisierungsvorgänge, in denen die Treuhandanstalt durch ihre Stabsstelle „Recht“ selbst ermittelt hat. Manfred Kittlaus, Leiter der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Zerv), berichtete 1998 von rund 4200 Fällen von Vereinigungskriminalität. Doch die Dunkelziffer ist hoch, da Schäden häufig erst nach Jahren ans Licht kommen.
Da an der Privatisierung und deren Kontrolle überwiegend westliche Institutionen und Akteure beteiligt waren, gehen die Wissenschaftler davon aus, dass anhand der Privatisierung der DDR-Betriebe auch generell typische Formen und Strukturen der Wirtschaftskriminalität und der wirtschaftsstrafrechtlichen Kontrolle beobachtet werden können, die unabhängig von der konkreten historischen Situation Gültigkeit besitzen. Ausgehend von der Erhebung der Stabsstellenakten werden problemzentrierte Interviews mit den Beteiligten ausgewählter Privatisierungsvorgänge sowie mit Verantwortlichen der für die Privatisierung und deren Kontrolle eingerichteten Organisationen geführt. Dadurch wird ein tiefgehender Zugang zu diesem international nur wenig erforschten Feld ermöglicht und unter Rückgriff auf handlungs- und systemtheoretische Überlegungen ein Beitrag zur wirtschaftskriminologischen Methodologie und Theoriebildung geleistet.
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