Volk im Pflegebett

Die Pflegebedürftigkeit nimmt dramatisch zu

Ihrer Untersuchung über die »Auswirkungen der demographischen Alterung auf den Versorgungsbedarf im Krankenhaus – Modellrechnungen bis zum Jahr 2050« (s. unsere Pressemitteilung vom 8.11.2000) haben die Autoren – Dr. Erika Schulz vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Prof. Dr. Reiner Leidl, Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie der Universität Ulm, und sein Mitarbeiter Dr. Hans-Helmut König – nun eine eingehende Erhebung über die »Auswirkungen der demographischen Entwicklung auf die Zahl der Pflegefälle – Vorausschätzungen bis 2020 mit Ausblick auf 2050« folgen lassen. Die demographische Entwicklung begründet die Annahme, dassdie Zahl Pflegebedürftiger deutlich zunehmen wird. Mit Hilfe des DIW-Bevölkerungsmodells und unter der Annahme konstanter Pflegefallwahrscheinlichkeiten haben die Autoren Größenordnung und Struktur der Pflegefälle vorausberechnet. Danach ist davon auszugehen, dassim Jahr 2020 rund 1 Million mehr pflegebedürftige Menschen in Deutschland leben werden als heute – eine Zunahme um mehr als 50 %. 2050 wird die Zahl mit 4,7 Millionen sogar das 2,5fache des heutigen Stands erreichen. Da zugleich die Zahl der Schwer- und Schwerstpflegebedürftigen stärker steigen wird als die der »erheblich Pflegebedürftigen«, wird sich der Grad der durchschnittlichen Pflegebedürftigkeit erhöhen, mit der Folge, dass die Nachfrage nach stationären Pflegediensten stärker zunimmt als nach ambulanter Betreuung. Der Versorgungs- und Betreuungsbedarf wächst damit überproportional zur Zahl der Pflegefälle.

Diese voraussehbare, auf der demographischen Alterung beruhende Entwicklung gibt insbesondere in Hinsicht auf die finanziellen Folgen für die sozialen Sicherungssysteme Anlass zur Sorge. Sicher ist schon heute, dassder gegenwärtig 1,7 % betragende Beitragssatz der Pflegeversicherung keinen Bestand haben wird. Hinzu kommt ein weiteres: Pflegende sind zum weit überwiegenden Teil die (Ehe-)Frauen und (Schwieger-)Töchter. Die bereits seit längerem zu beobachtenden Veränderungen in den Haushalts- und Familienstrukturen sowie die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen dürften somit auch Auswirkungen auf den Kreis der Personen haben, die potentiell für die häusliche Pflege zur Verfügung stehen – mit nachhaltigen Folgen für die Pflegestrukturen, die sich zu dem rein demographischen Effekt addieren.

Verschiebung der Altersstruktur

Den Berechnungen von Schulz, Leidl und König liegt die Bevölkerungsvorausschätzung des DIW aus dem Jahre 1999 zugrunde, die von einem nahezu konstanten Geburtenniveau, einer weiteren Erhöhung der Lebenserwartung – auf 81,4 Jahre bei Männern und auf 86,4 Jahre bei Frauen – sowie einem durchschnittlichen jährlichen Wanderungssaldo von 260.000 ausgeht. Unter diesen Annahmen wird die Einwohnerzahl Deutschlands von 82,2 Millionen Ende 1999 bis zum Jahre 2010 auf rund 82,5 Millionen steigen und anschließend bis 2020 in etwa wieder auf das Ausgangsniveau sinken. Danach nimmt die Einwohnerzahl ab. Im Jahre 2050 werden rund 73 Millionen Menschen in Deutschland leben.

Da Pflegebedürftigkeit erst vom 70. Lebensjahr an eine größere Rolle spielt, ist die Bevölkerungsentwicklung insbesondere in diesen Altersjahren von Interesse. Die Zahl der 70jährigen und Älteren wird bis 2020 um 4,8 Millionen und bis 2050 um weitere 6,4 Millionen steigen. Prozentual wird der Zuwachs innerhalb dieser Altersgruppe bis 2020 mit rund 170 % bei den 80- bis 85jährigen und im Zeitraum 2020 bis 2050 mit rund 160 % bei den 90jährigen und Älteren am größten sein. Insgesamt ist in den am stärksten von Pflegebedürftigkeit betroffenen Altersgruppen der Zuwachs bis 2050 mit rund 280 % (80- bis 85jährige), 240 % (85- bis 90jährige) und 410 % (90jährige und Ältere) beträchtlich. 1999 waren 18 % der Pflegebedürftigen unter 60 Jahre alt und 15 % 90 Jahre und älter. Im Jahre 2020 werden rund 11 % unter 60 Jahre und 19 % mindestens 90 Jahre alt sein. Der Anteil der 80jährigen und Älteren insgesamt wird von 49 % auf 62 % steigen. Gravierend wird die Verschiebung in der Altersstruktur nach 2020 sein. Im Jahre 2050 werden rund 30 % der Pflegebedürftigen 90 Jahre und älter sein. Zählt man die 80- bis unter 90jährigen hinzu, so ergibt sich ein Anteil von 77 %.

Lebenserwartung und Pflegebedürftigkeit

Die Veränderung der Zahl Pflegebedürftiger hängt neben der Bevölkerungsentwicklung von der Wahrscheinlichkeit ab, pflegebedürftig zu werden. Üblicherweise wird von der Entwicklung in der Vergangenheit – unter Berücksichtigung erkennbarer Veränderungen in den relevanten Einflussgrößen- auf die Zukunft extrapoliert. Detaillierte Angaben über die Struktur der Pflegebedürftigkeit liegen aber erst seit der Einführung der Pflegeversicherung, also für die Jahre 1995 bis 1999 vor. Eine zeitreihengestützte Analyse der Entwicklung der Pflegebedürftigkeit ist somit nicht möglich. Einige einschlägige Studien sprechen dafür, dass mit der steigenden Lebenserwartung eine Verkürzung der Krankheitsphasen vor dem Tod einhergeht. Dass sich damit auch die Pflegebedürftigkeitsphase verkürzt, ist eher unwahrscheinlich, denn die Hauptursachen der Pflegebedürftigkeit sind nicht in einer Krankheit an sich, sondern in den altersbedingten Hinfälligkeiten und Funktionseinschränkungen (körperlich und psychisch) zu sehen. Auch müssten Pflegebedürftigkeit und (Akut-)Erkrankung im gleichen Alter eintreten. Gegenwärtig leben Frauen im Durchschnitt sechs Jahre länger als Männer. Ihre höhere Lebenserwartung ist aber mit einer deutlich höheren Pflegebedürftigkeit in den höheren Altersklassen verbunden. Dies spricht eher für die Annahme, dass eine Verlängerung der Lebenserwartung die Pflegebedürftigkeit erhöht.

Inwieweit sich diese Gegebenheiten künftig durch innovative Behandlungsmethoden ändern könnten, ist ungewiss. Pflegebedürftigkeit im Alter ist zum Teil genetisch bedingt, aber auch auf Einflüsse im Lebensverlauf (Lebensgewohnheiten, Belastungen, Krankheiten usw.) zurückzuführen. Ein Großteil der im Jahre 2020 potentiell Pflegebedürftigen ist heute 50 Jahre und älter. Diese Personengruppe ist somit einerseits bereits durch die Einflüsse in der Vergangenheit geprägt. Andererseits dürfte eine Verringerung der Pflegewahrscheinlichkeit dieser Personengruppe nicht zuletzt davon abhängen, ob neue medizinische Behandlungsmethoden noch für diese Altersgruppe erschlossen werden können. Generell verbinden sich mit der Bio- und Gentechnik hohe Erwartungen, die längerfristig berechtigt sein mögen, kurzfristig jedoch kaum Auswirkungen haben dürften. In welcher Weise technischer Fortschritt in Diagnostik und Therapie zur Reduzierung der Pflegewahrscheinlichkeit und zur Verkürzung der Pflegebedürftigkeitsphasen beiträgt, ist folglich ungewiss. Die Autoren sind bei ihren Berechnungen demgemäss von der Annahme ausgegangen, das die alters- und geschlechtsspezifischen Pflegefallquoten des Jahres 1999 – differenziert nach Pflegestufen und Unterbringung (ambulant/teilstationär sowie vollstationär) – über den Vorausberechnungszeitraum konstant bleiben.

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Peter Pietschmann idw

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