Deutsche Politiker unter "Dauerbeobachtung" – größte Abgeordnetenbefragung in Deutschland
Wissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena haben jetzt die bislang größte Abgeordnetenbefragung in Deutschland abgeschlossen. Seit dem 8. September 2003 sind mehr als 950 Bundestagsabgeordnete, deutsche Europaparlamentarier sowie Mitglieder von zehn Landtagen zu ihrem politischen Werdegang und ihrer Mandatsausübung befragt worden. Die Erhebung ist Teil eines langfristigen Forschungsprojekts des Sonderforschungsbereichs (SFB) 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch“. Das Forschungsvorhaben, das von Prof. Dr. Heinrich Best und Prof. Dr. Karl Schmitt geleitet wird, beschäftigt sich mit den Karrieren und Handlungsorientierungen der Parlamentarier in Ost- und Westdeutschland.
„Wir möchten durch diese ,Dauerbeobachtung der Politiker erfahren, ob und wie sich ihr Selbstverständnis als Träger der parlamentarischen Demokratie in einer Zeit rascher gesellschaftlicher Umbrüche ändert“, berichtet der Politologe Dr. Michael Edinger. Der Projektkoordinator von der Universität Jena ist beeindruckt von der Auskunftsbereitschaft insbesondere der Landtagsabgeordneten (MdL). Drei von vier, in Thüringen fast 90 Prozent, nahmen an der telefonischen Befragung teil. In einzelnen Fraktionen wie der Thüringer SPD und der PDS in Sachsen-Anhalt beteiligten sich sogar alle Abgeordneten.
Erste Ergebnisse widerlegen populäre Vorurteile gegenüber Parlamentariern. Zwei von drei Befragten geben an, dass sie in ihrem beruflichen Leben noch nie so viel gearbeitet hätten wie als Abgeordnete. Trotz einer Arbeitszeit von 50-60 Stunden pro Woche sind noch fast 30 Prozent nebenberuflich tätig. Im Westen ist der Anteil der „Nebenberufler“ doppelt so hoch wie im Osten. Ost-West-Unterschiede finden sich auch bei der Arbeitszufriedenheit. Zwar ist eine deutliche Mehrheit der Parlamentarier mit ihrer Tätigkeit zufrieden, doch liegt der Anteil der Unzufriedenen in Ostdeutschland wesentlich höher als in den alten Ländern. „Sie hatten sich größere Gestaltungsmöglichkeiten erwartet, als sie ins Parlament kamen“, so Edinger. Die Westdeutschen schätzen aufgrund ihrer längeren, klassischen Parteikarrieren ihre Handlungsspielräume „realistischer“ ein und werden so weniger enttäuscht, so die Hypothese des Politikwissenschaftlers.
Doch nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Parteien decken die Jenaer Wissenschaftler bemerkenswerte Unterschiede auf. So lehnt beispielsweise eine Mehrheit der westdeutschen SPD-Abgeordneten ein bundesweites Zentralabitur ab, während es unter den ostdeutschen breite Zustimmung erfährt. Verblüffend einig sind sich CDU und Grüne – zumindest hinsichtlich einer Koalition: „Jeweils eine Mehrheit der Parlamentarier beider Parteien hält eine schwarz-grüne Koalition für akzeptabel, wenngleich nicht für wünschenswert“, weist Edinger auf einen anderen interessanten Befund hin. Weitergehende Resultate erwarten die Jenaer Forscher, sobald sie die zahlreichen Daten intensiv ausgewertet haben.
„Mit unser Studie können wir erstmalig auch gesicherte Aussagen über den Verbleib von Abgeordneten treffen“, so der Jenaer Politikwissenschaftler weiter. Denn zusätzlich zu den aktuellen Abgeordneten sind auch 550 ehemalige Parlamentarier interviewt worden. Dabei zeigt sich, dass das Berufsrisiko der ostdeutschen Abgeordneten sehr viel größer ist als das ihrer westdeutschen Kollegen. Mehr als 10 % der aus dem Parlament ausgeschiedenen „Ossis“ sind zumindest zeitweilig arbeitslos. Bei den Westdeutschen sind es gerade einmal zwei Prozent. Da die Jenaer Wissenschaftler in einem europäischen Forschungsnetzwerk mitwirken, wird bald auch ein systematischer Vergleich mit Parlamentariern in Ost- und Westeuropa möglich sein.
Kontakt:
Dr. Michael Edinger
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Sonderforschungsbereich 580 „Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch – Diskontinuität, Tradition und Strukturbildung“, Projekt A 3
Tel.: 03641 / 945055
E-Mail: s6edmi@nds.rz.uni-jena.de
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Weitere Informationen:
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