Ostdeutsche Mütter sind seltener verheiratet und jünger

Differenzen bei der Familienbildung in Deutschland halten an

Die Geburtenentwicklung in Ostdeutschland nach der politischen Wende 1990 ist vielfach als „Geburtenkrise“ und „Geburtenschock“ interpretiert worden. Von dieser Diagnose ausgehend richtete sich das Interesse vor allem darauf, ob und wann ostdeutsche Frauen Geburten nachholen und sich an westdeutsche Verhältnisse anpassen würden. Neue Analysen zeigen jedoch, dass sich die Familiengründung in den neuen Bundesländern weiter von der in den alten Ländern unterscheidet.

Die am häufigsten zur Beschreibung der Geburtenentwicklung herangezogene Maßzahl ist die zusammengefasste Geburtenziffer. Betrachtet man deren Verlauf, scheint sich der Ost-West-Unterschied zu verringern: Nachdem die ostdeutsche Geburtenziffer von 1,52 im Jahr 1990 in den Jahren 1992 bis 1994 auf 0,8 zurückgegangen war, stieg sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wieder. Im Jahr 2000 lag sie in den alten Ländern bei 1,4 und in den neuen Ländern bei 1,2.

Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt im Idealfall die endgültige Kinderzahl pro Frau an. Für Ostdeutschland führt diese Maßzahl aber zu verzerrten Schlussfolgerungen. Ein wesentlicher Grund dafür sind Veränderungen des Alters bei der Geburt. Solche Tempoeffekte spielten bei der Geburtenentwicklung in Ostdeutschland nach 1990 eine besonders große Rolle, da Frauen in der DDR mehrere Jahre früher Mutter wurden als westdeutsche Frauen. Nach der Wende haben ostdeutsche Frauen die Familiengründung aufgeschoben und näherten sich damit dem relativ hohen Alter west- deutscher Frauen bei der ersten Geburt an. Dieser Aufschub hat zwangsläufig einen sofortigen Einbruch der jährlichen Geburtenziffern mit sich gebracht. Die Konsequenz ist paradox: Die zunehmende Diskrepanz in der zusammengefassten Geburtenziffer in den ersten Jahren nach der Wende reflektiert verringerte Ost-West-Differenzen des Alters bei der Erstgeburt.

Dies wird deutlich bei einem Vergleich unterschiedlicher Geburtsjahrgänge (Kohorten). Die Möglichkeiten solcher Analysen des Geburtenverhaltens in Ostdeutschland waren bislang erheblich eingeschränkt, weil die amtliche Bevölkerungsstatistik keine ausreichenden Informationen über die Rangfolge einer Geburt (paritätsspezifische Angaben) enthält. Auch haben die einschlägigen Befragungsdatensätze meist zu geringe Fallzahlen, um einzelne Kohorten zu analysieren. Mit dem der wissenschaftlichen Forschung im September des vergangenen Jahres zur Verfügung gestellten Mikrozensus 2000 können nun einige Aspekte des Wandels im Geburtenverhalten separat für verschiedene Geburtsjahrgänge untersucht werden.

Wie sich die Muster der Familiengründung im Lebenslauf in Ost- und Westdeutschland verändert haben, kann in Form so genannter Überlebensfunktionen dargestellt werden. Diese geben den Anteil der befragten Frauen wieder, die in einem bestimmten Lebensalter noch kein erstes Kind geboren haben. Abbildung 1 stellt die Anteile der in jedem Alter zwischen 15 und 35 Jahren noch kinderlosen Frauen dar.

Am Beispiel des Geburtsjahrgangs 1964 lässt sich die Familiengründung von Frauen in Ost- und Westdeutschland vor 1990 demonstrieren:

• Im Mittel wurden ostdeutsche Frauen der Kohorte 1964 mehr als fünf Jahre früher Mutter als westdeutsche Frauen: Die Hälfte der ostdeutschen Frauen hat ein erstes Kind bereits im Alter von 22 Jahren, die Hälfte der westdeutschen Frauen dagegen erst im Alter von 28 Jahren geboren.

Der Anstieg des Alters bei Familiengründung in Ostdeutschland kann an Hand eines Vergleichs der Geburtsjahrgänge 1964, 1968 und 1972 nachvollzogen werden:

• Die 1968 geborenen Frauen hatten bis zum Alter von 22 Jahren fast genauso häufig ein erstes Kind wie die 1964 geborenen Frauen. Mit der Wende 1990 haben sie jedoch die Familiengründung auf ein höheres Alter verschoben. In der Folge ist der Kurvenverlauf für den Geburtsjahrgang 1968 deutlich flacher geworden.

• Viel später als die älteren Jahrgänge haben die Frauen des Jahrgangs 1972 ein erstes Kind bekommen. Im Vergleich der Kohorten 1964 und 1972 ist das mittlere Alter bei der Erstgeburt um fünf Jahre gestiegen.

Diese Zahlen belegen, dass ostdeutsche Frauen die Geburt ihres ersten Kindes nach der Wende deutlich aufgeschoben haben. Allerdings haben sie nicht so lange oder gar länger gewartet als westdeutsche Frauen. Für den Jahrgang 1972 zeigt sich:

• Ostdeutsche Frauen haben früher ein erstes Kind bekommen als westdeutsche Frauen. Im Alter von 27 waren noch 50 Prozent der Frauen in den neuen Bundesländern und 62 Prozent der Frauen im Westen kinderlos.

Eine Ost-West-Angleichung des Alters bei der Familiengründung ist also bislang nicht eingetreten. Im Unterschied zur populären Vorstellung eines „Geburtendefizits“ haben auch die Frauen der jüngeren Jahrgänge im Osten nicht seltener oder später, sondern früher als im Westen ein erstes Kind bekommen.

Besonders prägnant ist ein weiterer Unterschied zwischen Ost und West: die Kopplung von Heirat und Familiengründung. In den neuen Ländern (ohne Berlin-Ost) wurde im Jahr 2001 mehr als die Hälfte der Kinder nichtehelich geboren (54 Prozent aller Geburten). Dieser Wert ist auch im europäischen Vergleich ausgesprochen hoch. In Westdeutschland lag der Anteil nichtehelich geborener Kinder dagegen, trotz steigender Werte in den 1990er Jahren, bei 20 Prozent.

Hinter nichtehelichen Geburten verbirgt sich aus der Perspektive des Lebenslaufs ein komplexer Entscheidungsprozess von Paaren über Zusammenleben, Eheschließung und Familiengründung. In Westdeutschland war ein seit Jahrzehnten etabliertes Muster der engen Kopplung von Heirat und Familiengründung auch in den 1990er Jahren von überragender Bedeutung: die „kindorientierte Eheschließung“. Demgegenüber war der Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen in Ostdeutschland sehr viel schwächer. Dort ist die Familienform der nichtehelichen Lebensgemeinschaft mit Kind mittlerweile stark verbreitet. Hingegen sind nichteheliche Geburten in Westdeutschland nach wie vor eng mit sozialen Problemlagen allein erziehender Elternschaft verbunden.

Ein weiterer Unterschied zwischen den neuen und alten Ländern betrifft die ökonomische Basis der Familie. Während im Westen weiterhin das Modell des männlichen Versorgers eine große Rolle spielt, sind ostdeutsche Familien überwiegend im Sinne eines Doppelverdiener-Modells organisiert.

Die genannten Ost-West- Unterschiede haben die Wende 1990 entgegen vieler Erwartungen weitgehend überlebt. Die ausgeprägte Erwerbsorientierung von ostdeutschen Frauen und Müttern ist aber nicht allein ein kulturelles Erbe der DDR. Sie wird auch von strukturellen Rahmenbedingungen in Ostdeutschland gestützt, namentlich von der institutionellen Kinderbetreuung – wenngleich diese gegenwärtig verstärkt unter Druck gerät.

Insgesamt zeigen die dargestellten Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, dass sich die Prozesse der Familiengründung trotz einer Annäherung der Fertilitätsziffern in den vergangenen Jahren nicht angeglichen haben. Es bestehen nach wie vor deutliche Differenzen im Heiratsverhalten, in den Familienformen und im Erwerbsverhalten von Frauen mit Kindern. Sollte mittelfristig eine spürbare Lockerung der starren Restriktionen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in den alten Bundesländern erfolgen, scheint eine Annäherung der Muster der Familienentwicklung im Westen an jene im Osten prinzipiell nicht weniger wahrscheinlich als eine Annäherung in umgekehrter Richtung.

Literatur: Kreyenfeld, M.: Fertility decisions in the FRG and GDR. Max Planck Institute for Demographic Research, Rostock 2004, 45 p. (WP-2004-008).

Kreyenfeld, M.: Crisis or adaptation – reconsidered: a comparison of East and West German fertility patterns in the first six years after the ‘Wende’. European Journal of Population 19 (2003)3: 303-329.

Konietzka, D. and M. Kreyenfeld:Women´s employment and non-marital childbearing: a comparison between East and West Germany in the 1990s. Population: English Edition 57(2002)2: 331-358

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