Grenzmilieus zwischen Abschottung und Öffnung

Die deutsch-polnische Grenze ist für den Prozess der EU-Osterweiterung in vieler Hinsicht von entscheidender Bedeutung: Die weltgeschichtlichen Desaster des letzten Jahrhunderts bleiben hier direkt spürbar, eine der härtesten Sprachengrenzen Europas prägt weiterhin den Alltag, zugleich treffen eine große Neugierde auf den jeweils Anderen mit Zukunftsangst und Abschottungstendenzen gegenüber diesem Anderen zusammen. In dieser gespannten Situation von Konflikten und Optionen wird die Ebene der Alltagskulturen und Mentalitäten in den Grenzmilieus zu einem wichtigen Indikator für den faktischen Stand der grenzüberschreitenden Kooperationen.
Vier Thesen aus unseren Projektforschungen in deutsch-polnischen Grenzmilieus sollen diese Einschätzung konkretisieren:

1. These

Wachsende Distanz zwischen der (nationalen / regionalen / lokalen) Ebene von europäischer Vereinigungspolitik gegenüber den Problemen und Relevanzstrukturen „vor Ort“ in den lokalen Milieus. Gefahr des Realitätsverlustes von „symbolischer Europa-Politik“ – während die faktischen Wachstumsdynamiken der grenzüberschreitenden Kooperation den direkten Grenzraum „froschartig“ überspringen.

2. These

Gefahr der Peripherisierungsdynamiken und Negativ-Spiralen für die Grenzregion als Ganzes: Zumindest auf deutscher Seite herrscht in den Grenzmilieus „Angst“ vor den ungeplanten, aber absehbar scheinenden Folgen der EU-Osterweiterung vor. Diese „Peripherisierung im Kopfe“ führt zu Handlungshemmungen und zur Verbreitung eines Attentismus: Die Probleme der Grenzregion werden dabei als „von oben“ verursacht angesehen. „Von oben“ wird daher auch die Lösung erwartet. Die wenigen aktiven „intermediären“ Gruppen und Akteure vor Ort sind zu schwach, um sich gegen diesen Trend zu stemmen. Auf polnischer Seite ist dagegen eine größere Öffnungsbereitschaft nach Westen vorhanden, trotz der bleibenden Ängste vor einer neuerlichen deutschen Landnahme – nun durch deutsches Kapital. Auch auf polnischer Seite gibt es allerdings wachsende Tendenzen einer „essentialistischen“ Konstruktion des Fremden und des Eigenen („deutsch“ vs. „polnisch“).

3. These

Eine wichtige Rolle für die Bildung einer unterschiedlichen Innovationsbereitschaft in den Grenzmilieus spielen die beiden extrem unterschiedlichen Transformationspfade, die im deutsch-polnischen Grenzraum aufeinandertreffen. Der polnische Pfad ist dabei durch eine „Schock-Therapie“ gekennzeichnet, die nach dem damaligen polnischen Finanzminister „Balcerowicz-Typ“ genannt wird. Sie wird in der Transformationsforschung auch als Big-Bang-Form bezeichnet. Dagegen ist die ostdeutsche, eher abgepufferte, „gradualisierte“ Variante der Transformation wesentlich stärker durch Kapital-Transfers und west-östliche Institutionenexporte abgefedert. Trotz dieser Gradualisierungstendenzen der Transformation hat der ostdeutsche Weg aber weite Bevölkerungsschichten harsch aus ihren vertrauten Routinen, in der Regel auch aus ihren Berufen gerissen. Der Zusammenprall dieser zwei stark unterschiedlichen Transformationspfade, des polnischen wie des ostdeutschen, stellt für die Alltagskulturen der Grenzräume und Grenzstädte eine enorme zusätzliche Belastung dar. Er öffnet allerdings auch neue Optionen und Chancen und er befördert oder bremst die Suche nach innovativen Lösungen für die schwierigen strukturellen Probleme in dieser Grenzregion.

4. These

Angesichts dieser Problemschichtungen und des schmalen Zeitfensters, das dem jetzigen EU-Außen-Grenzraum noch bleibt, um die drohende Gefahr einer neuen Peripheriebildung – dann in der Mitte des neuen Europas – abzuwenden ist eine zentrale Frage: In welcher Richtung zeigen sich Lösungen? Wir meinen, vor allem in der Richtung einer konsequenten Verstärkung lokal eingebetteter Lernprozesse und zwar auf der ganzen Bandbreite von möglichen Lernformen – von besseren individuellen Ausbildungsangeboten und -anstrengungen bis zu Lernprozessen von Institutionen, Neu-Gründungen von lokal eingebundenen grenzüberschreitenden Institutionen. Über Lernvorgänge auch muss das Verhältnis des Eigenen und des Fremden auf der Ebene der Alltagskulturen „nicht-essentialistisch“ verankert werden. Neue Mischungen von lokalem Stolz, Eigensinn und einer Neugierde auf das Andere am Nachbarn muss zum individuellen und lokalkulturellen Motor für Innovationen in den von Peripherisierung bedrohten Grenzmilieus werden.


Erkner bei Berlin


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