Immer mehr Hundertjährige
- Max-Planck-Wissenschaftler belegen: Prognosen der Lebenserwartung müssen nach oben korrigiert werden
- Konsequenzen für Arbeits-, Gesundheits- und Rentenpolitik
Die Rekordlebenserwartung, d.h. die weltweit höchste in einem Land beobachtete durchschnittliche Lebensdauer der Menschen, hat in den letzten 160 Jahren mit verblüffender Regelmäßigkeit – um drei Monate pro Jahr – zugenommen. Das belegt eine gemeinsame Studie des Rostocker Max-Planck-Instituts für demografische Forschung und der Universität Cambridge. Theorien und Prognosen über vermeintliche Obergrenzen der Lebenserwartung haben sich dagegen stets als falsch erwiesen. Müssen Privatpersonen und die Entscheidungsträger in der Sozialpolitik umdenken? Die Studie erscheint in der neuesten Ausgabe der internationalen Fachzeitschrift Science am 10. Mai 2002.
„Abb. 1: Am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock untersuchen die Wissenschaftler Struktur und Dynamik von Bevölkerungen. Ein Arbeitsschwerpunkt des Instituts liegt auf dem Thema „Altern“. Hier sollen Forschungsarbeiten Aufschluss über generelle Prinzipien von Lebensverläufen, Altern und Mortalität geben. „ „Bildmontage Max-Planck-Institut für demografische Forschung; Teilbildabdruck genehmigt durch Harald Wenzel-Orf, Original in Harald Wenzel-Orf „Mit hundert war ich noch jung.“ Econ-Verlag, München 2000″ |
In ihrer Science-Studie haben die Demografen Jim Oeppen, Cambridge Group for the Hitstory of Population and Social Structure, Cambridge University, England, und Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung, sowie James W. Vaupel, Direktor am Max Planck Institut für demografische Forschung, Rostock, die Entwicklung der Rekordlebenserwartung seit 1840 rekonstruiert und ihre Beobachtungen mit historischen und zeitgenössischen Expertenmeinungen und Prognosen verglichen. Ihre Studie führte zu drei Hauptergebnissen: 1. Viele Experten, die über das Altern forschen, haben über Jahrzehnte hinweg wiederholt behauptet, dass die Lebenserwartung bald eine Obergrenze erreichen würde. Verschiedene biologische und praktische Barrieren wurden vermutet, und in den vergangenen 75 Jahren wurden viele Behauptungen über die vermeintliche Höchstgrenze der Lebenserwartung aufgestellt. Diese Behauptungen stellten sich regelmäßig wenige Jahre später als falsch heraus, weil die vermeintliche Höchstgrenze dann bereits in einem Land durchbrochen wurde. 2. Sollte die Lebenserwartung bald ihre Obergrenze erreichen, würde man erwarten, dass sich der Zuwachs in der Rekordlebenserwartung verlangsamt. Doch genau das trifft nicht zu. Die Entwicklung der letzten 160 Jahre zeigt vielmehr, dass die Rekordlebenserwartung stetig und kontinuierlich um ungefähr drei Monate pro Jahr angestiegen ist (siehe Abbildung 2).
„Abb. 2: Rekordlebenserwartung für Frauen von 1840 bis 2000. Die Regressionsgerade ist durch eine durchgezogene schwarze Linie gekennzeichnet. Der extrapolierte Trend ist durch eine graue, gestrichelte Linie dargestellt.“ „Grafik: Max-Planck-Institut für demografische Forschung“ |
3. In manchen Ländern verlangsamt sich heute das Wachstum der Lebenserwartung. Dies ist jedoch kein Hinweis darauf, dass sich die Lebenserwartung in diesen Ländern einer Obergrenze nähert. Vielmehr scheint es, dass im internationalen Vergleich Nachzügler den Abstand zu den führenden Ländern aufholen und diese selbst zurückbleiben (siehe Abbildung 3).
„Abb. 3: Lebenswartung von Frauen in verschiedenen Ländern im Vergleich zum Trend in der Rekordlebenserwartung.“ „Grafik: Max-Planck-Institut für demografische Forschung“ |
Zur Begriffserklärung: Lebenserwartung bezeichnet das mittlere Sterbealter, das unter den bestehenden Sterblichkeitsverhältnissen eines bestimmten Kalenderjahres erreicht wird. Die Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt wird berechnet als die durchschnittliche Anzahl der Jahre, die Neugeborene leben würden, wenn die für ein bestimmtes Kalenderjahr beobachteten altersspezifischen Sterbeziffern unverändert bleiben würden. Die Rekordlebenserwartung, d.h. die weltweit höchste in einem Land beobachtete Lebenserwartung, nimmt pro Jahr um ungefähr drei Monate zu. In den letzten 160 Jahren ist die Rekordlebenserwartung insgesamt um knapp 40 Jahre angestiegen. Im Jahr 1840 hielten Frauen in Schweden den Rekord – sie wurden im Durchschnitt 45 Jahre alt. Heute wird die höchste Lebenserwartung in Japan beobachtet (Frauen: 85 Jahre, Männer: 78 Jahre). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ließ sich der Anstieg der Lebenserwartung hauptsächlich auf den Rückgang in der Kindersterblichkeit zurückführen. Nach 1950 trugen dagegen Fortschritte in der Verbesserung der Überlebenschancen der über 65-Jährigen wesentlich zum Zuwachs in der Lebenserwartung bei. Der Anstieg der Lebenserwartung ist das Resultat eines komplizierten Zusammenspiels verschiedener Faktoren, wie z.B. Bildung, Einkommen, Ernährung, medizinische Versorgung, Hygiene und Gesundheitsverhalten. Dieses Zusammenspiel variiert mit dem Alter, der Zeitperiode, dem Geburtsjahrgang, der geografischen Lage und bei verschiedenen Krankheiten. Die Ursachen für den Anstieg der Lebenserwartung sind also kompliziert und abhängig von den eben beschriebenen Zusammenhängen, aber das Resultat – eine klare lineare Zunahme der Rekordlebenserwartung – ist eindeutig (vgl. Abbildung 2). Erstaunlich ist das Ausmaß der Konstanz und Regelmäßigkeit im Anstieg der Rekordlebenserwartung. So lässt sich die Zunahme über 160 Jahre fast perfekt durch eine Gerade beschreiben (siehe Abbildung 2). Wenn sich der lineare und kontinuierliche Zuwachs der Lebenserwartung in der Zukunft fortsetzt, dann wird in 60 Jahren die Rekordlebenserwartung einhundert Jahre betragen. Die Ergebnisse der Studie haben gravierende Folgen für die Politik und die persönliche Lebensplanung. Denn viele der bisherigen, offiziellen Prognosen, die auf der Annahme beruhen, die Obergrenze der Lebenserwartung sei bald erreicht, lenken die Gesetzgebung und diejenigen, die für ihren Ruhestand planen und vorsorgen wollen, in die falsche Richtung. Falsche Prognosen können zum Beispiel zur Folge haben, dass tiefgreifende, aber notwendige Änderungen in der Arbeits-, Gesundheits- und Rentenpolitik aufgeschoben werden. Seit Urzeiten streben Menschen nach einem langen Leben bei guter Gesundheit. Der Anstieg in der Rekordlebenserwartung über einen Zeitraum von 160 Jahren ist eine beeindruckende menschliche Errungenschaft und demonstriert eine erstaunliche Konstanz des Fortschritts.
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