Eine neue Theorie der Resilienz
Wissenschaftler des Forschungszentrums Translationale Neurowissenschaften (FTN) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) haben einen ganzheitlichen Rahmen für künftige Resilienz-Studien entwickelt. Sie schlagen dabei eine mechanistische Theorie vor, die die Bewertung, die das Gehirn als Reaktion auf belastende oder bedrohliche Situationen vornimmt, in den Mittelpunkt rückt – bisher standen vor allem soziale, psychologische und genetische Faktoren im Vordergrund der Resilienz-Forschung.
Die Arbeit der Mainzer Wissenschaftler wurde kürzlich online in der Fachzeitschrift „Behavioral and Brain Sciences“ veröffentlicht.
Bei der Entstehung vieler psychischer Erkrankungen wie Depression, Angst oder Sucht spielen Stress, traumatische Ereignisse oder belastende Lebensumstände eine wesentliche Rolle. Doch nicht jeder Mensch, der mit solchen Belastungen konfrontiert wird, entwickelt eine psychische Erkrankung. Die jedem Menschen innewohnende „seelische Widerstandskraft“ – im Fachjargon „Resilienz“ – hilft, Herausforderungen, Belastungen und schwierige Situationen wirkungsvoll zu meistern und dabei mental gesund zu bleiben. Die Tatsache, dass einige Menschen nicht oder nur kurzfristig erkranken, obwohl sie großen psychischen oder physischen Belastungen ausgesetzt sind, lässt vermuten, dass protektive Mechanismen – also Schutz- und Selbstheilungskräfte – existieren, welche die Entwicklung von stressbedingten Erkrankungen verhindern.
Die Entschlüsselung dieser Mechanismen ist zentrales Ziel der Mainzer Wissenschaftler. Durch eine gründliche Sichtung und Auswertung bisheriger Studien und Untersuchungen zum Thema „Resilienz“ ist es ihnen gelungen, ein gemeinsames Prinzip gleichsam heraus zu destillieren, welches als ganzheitliche Basis für künftige Studien im Bereich der Resilienz dienen kann. Dabei haben die Wissenschaftler verschiedene Dimensionen und Forschungsansätze – von psychologischen und sozialen Ansätzen über genetische bis hin zu neurobiologischen Untersuchungen – vereint. „Bisher beschäftigte sich die Resilienzforschung weitgehend mit den unterschiedlichsten sozialen, psychologischen oder auch genetischen Faktoren, die die seelische Widerstandskraft positiv beeinflussen, wie beispielsweise die soziale Unterstützung, bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder typische Verhaltensweisen“, erläutert Univ.-Prof. Dr. Raffael Kalisch, einer der Autoren der aktuellen Veröffentlichung und Leiter des Neuroimaging Centers (NIC), einer zentralen Forschungsplattform der Universitätsmedizin Mainz und des FTN. „Wir haben uns gefragt, ob es einen gemeinsamen Nenner für all diese Einzelansätze gibt und dazu verschiedene Beispiele durchdekliniert. Als Ergebnis stellen wir in unserer neuen Theorie weniger die einzelnen Faktoren als vielmehr das Gehirn selbst in den Mittelpunkt. Die entscheidende Frage lautet demnach ‚Wie bewertet das Gehirn eine bestimmte Situation oder einen bestimmten Reiz?‘. Eine positive Reizbewertung ist vermutlich der zentrale Mechanismus, der letztlich über die Resilienz des Individuums entscheidet. Die vielen bisher identifizierten Faktoren bestimmen Resilienz nur indirekt, indem sie die Bewertung beeinflussen.“ Eine interessante Konsequenz des Bewertungsansatzes ist es, dass es weniger die belastenden Situationen oder Reize sind, die entscheiden, ob Stress entsteht, sondern die Art und Weise, wie das Individuum die Situation bewertet. Ein positiver Bewertungsstil schützt langfristig vor stressbedingten Erkrankungen, weil er die Häufigkeit und das Ausmaß von Stressreaktionen verringert. Diesen neuen mechanistischen Ansatz haben die Wissenschaftler „PASTOR“ getauft: Die Abkürzung steht für „Positive Appraisal Style Theory Of Resilience“.
Ziel der Forschungsaktivitäten der nächsten Jahre muss es nun sein, insbesondere die neurobiologischen Prozesse, die einer positiven Bewertung durch das Gehirn zugrunde liegen, zu erforschen. „Wir wollen verstehen, welche Vorgänge im Gehirn Menschen dazu befähigen, sich gegen die schädlichen Auswirkungen von Stress und belastenden Lebensereignissen zu schützen und wie diese Schutzmechanismen gezielt gefördert und verstärkt werden können“, so Professor Kalisch.
Ein Beispiel für ein konkretes Forschungsprojekt, das von der PASTOR-Theorie inspiriert ist, ist das neuanlaufende „Mainzer Resilienz-Projekt“ (MARP). In diesem werden junge, gesunde Studienteilnehmer rekrutiert, die sich in der besonderen und nicht selten schwierigen Lebensphase des Übergangs von Jugend und Schulzeit hin zum Berufsleben befinden. Um ihre psychische Gesundheit und die Stressoren, denen sie im Laufe der Jahre ausgesetzt sind, zu erfassen, begleiten die Wissenschaftler die Probanden über mehrere Jahre. Dadurch wollen die Forscher wichtige Schutz-Mechanismen des Gehirns sowie geistige Fähigkeiten zur seelischen Widerstandskraft identifizieren. Das langfristige Ziel besteht darin, effektive Präventionsmaßnahmen zu entwickeln und so individuelles Leid sowie ökonomische und soziale Kosten zu reduzieren.
Für ihre Forschungen finden die Mainzer Wissenschaftler ein ideales Umfeld vor: So hat sich das kürzlich gegründete Deutsche Resilienz-Zentrum Mainz (DRZ Mainz), in dem Neurowissenschaftler, Mediziner, Psychologen und Sozialwissenschaftler zusammenarbeiten, die Erforschung der Resilienz zum Ziel gesetzt. Unter dem Kern-Profil „Verstehen, Vorbeugen, Verändern“ widmet sich das DRZ Mainz auf innovative Art einer Frage von überregionaler Bedeutung. Es schließt eine wichtige Lücke in der deutschen Forschungslandschaft und ist europaweit das erste Zentrum dieser Art.
Originalpublikation:
A conceptual framework for the neurobiological study of resilience.
Kalisch R, Müller MB, Tüscher O. Behav Brain Sci. 2014 Aug 27:1-49. [Epub ahead of print], DOI: http://dx.doi.org/10.1017/S0140525X1400082X
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Dr. Renée Dillinger-Reiter, Stabstelle Kommunikation und Presse Universitätsmedizin Mainz,
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Über die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Die Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz ist die einzige medizinische Einrichtung der Supramaximalversorgung in Rheinland-Pfalz und ein international anerkannter Wissenschaftsstandort. Sie umfasst mehr als 60 Kliniken, Institute und Abteilungen, die fächerübergreifend zusammenarbeiten. Hochspezialisierte Patientenversorgung, Forschung und Lehre bilden in der Universitätsmedizin Mainz eine untrennbare Einheit. Rund 3.300 Studierende der Medizin und Zahnmedizin werden in Mainz ausgebildet. Mit rund 7.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist die Universitätsmedizin zudem einer der größten Arbeitgeber der Region und ein wichtiger Wachstums- und Innovationsmotor. Weitere Informationen im Internet unter www.unimedizin-mainz.de
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