Essigfliege hilft Ingenieuren bei Entwicklung von Kleinstrobotern

Flügelbewegung im Flug der Taufliege Drosophila. Das Foto zeigt eine Momentaufnahme der Flügelbewegung im oberen Umkehrpunkt des nur fünf Millisekunden dauernden Flügelschlags.
Professor Fritz-Olaf Lehmann / Universität Rostock

Ingenieure konnten viele Jahre nicht im Detail erklären, warum Insekten ihren Körper in der Luft halten können. „Einen Durchbruch im Verständnis, wie Insekten fliegen, gibt es seit 1999“, sagt Professor Fritz-Olaf Lehmann, der seit 2012 den Lehrstuhl für Tierphysiologie an der Universität Rostock leitet. Bis dahin ging man davon aus, dass der Auftrieb von Insekten ähnlich der Aerodynamik von Flugzeugflügeln funktioniere. Überträgt man deren aerodynamische Gesetze jedoch auf Insekten, sollten die Tiere nicht fliegen können. Dies ist als „Hummel-Paradox“ in die populäre Literatur eingegangen.

Die komplexe Flügelbewegung von Insekten sei eine beeindruckende Leistung der Natur – sie verleihe den Insekten ihre einzigartige Manövrierfähigkeit, sagt Professor Lehmann, der mit einer neuen Studie zur Fortbewegung der kleinen Essigfliege jetzt einen wertvollen Beitrag geleistet hat (Scientific Reports 11, 2021).

Forschungen und Entwicklungen, die sich mit dem Verständnis und der Anwendung technischer Lösungen aus der Biologie beschäftigen, werden unter dem Begriff Bionik zusammengefasst. „Das ist ein überaus spannendes Feld“, betont Professor Sven Grundmann, Leiter des Lehrstuhls für Strömungsmechanik an der Universität Rostock. Für ihn sei es besonders reizvoll, „weil es weniger um die eigene Erfindung als um das Enträtseln existierender optimierter Systeme geht. Im Fall fliegender Insekten beispielsweise sind die grundlegenden strömungsmechanischen Abläufe zwar verstanden, aber je mehr Details zutage gefördert werden, desto mehr Detaillösungen müssen erkannt und begriffen werden“, sagt Professor Grundmann. „Die geringe Größe und die hohen Frequenzen fordern unsere Methoden bis an die Grenzen.“

Neben der Strömungsmechanik sind bei der Umsetzung biologischer Lösungen in technische Nachbauten weitere Ingenieurdisziplinen involviert. Das betreffe die Mechanik der Baumaterialien von Körper und Flügel, die Kinematik und Dynamik der Muskeln und Antriebe, aber auch die Sensorik und Regelcharakteristik des gesamten Flugsteuerungssystems und vieles mehr. „Die kleinsten Insekten sind gerade deswegen besonders spannend, weil die Systeme, insbesondere das neuronale System, vergleichsweise einfach sind und noch am ehesten die Chance bieten, sie beispielsweise mit künstlicher Intelligenz nachzubilden“, so Professor Grundmann.

Der 59-jährige Professor Lehmann hat seine Forschung als Wissenschaftler auf die Bewegung von Tieren ausgerichtet. Der gebürtige Rheinländer befasste sich schon in seiner Diplom- und Doktorarbeit mit der Fortbewegung von Tieren. Er gilt in der Fachwelt als Spezialist für die Aerodynamik des Insektenflugs.

Lehmann, der mehrere Jahre an der Universität von Kalifornien in Berkeley und der Universität Chicago geforscht hat, untersucht den Flugantrieb am Beispiel der Essigfliege, auch Taufliege genannt. „Die Essigfliege Drosophila ist wegen ihrer Genetik ein guter Stellvertreter für fliegende Insekten“, so Professor Lehmann. Durch genetische Veränderungen können beispielsweise einzelne Komponenten des Flugantriebs verändert werden. Überdies ist Fliegen aus energetischer Sicht die aufwändigste Form der Fortbewegung von Tieren. Je kleiner ein Tier sei, desto schwieriger sei es, sich in der Luft zu halten, sagt Professor Lehmann.

Seine aktuelle Studie zeigt, dass die Essigfliege die Energie von Luftwirbeln, die im Flug durch die Flügelbewegung gebildet werden, aus der Umgebungsluft wieder zurückgewinnen kann. Dies reduziert die für das Fliegen notwendige Muskelleistung und macht den Antrieb effizienter. Die Rostocker Forscher haben hierfür im Laborversuch Luftströmungen und Flügeldeformation bei der Flügelschlagumkehr der kleinen Fliege mittels eines Hochgeschwindigkeitslasers und einer Videokamera mit 10 000 Bildern pro Sekunde ausgemessen.

„Fliegen nutzen Luftwirbel, die auf der Flügeloberfläche entstehen, um genügend Auftrieb zu erzeugen. Nur so können sie sich in der Luft halten“, beschreibt Professor Lehmann das Phänomen. Eine ähnliche Art des Energierecyclings wurde bereits zuvor bei Fischen beobachtet, die Wasserwirbel hinter Steinen für die Fortbewegung nutzen können. Wem diese Erkenntnisse nützen? Professor Lehmann ist überzeugt, „dass die neuen Erkenntnisse hilfreich für die Entwicklung von Kleinstrobotern im Bereich der Bionik sind. Diese technischen Replikate könnten Aufgaben übernehmen, zu denen größere Fluggeräte nicht fähig sind — beispielsweise Gebäude im Falle eines Brandes erkunden.“

Text: Wolfgang Thiel

Bildunterschrift:
Das Foto zeigt Zuchtgefäße für die Taufliege Drosophila in einem Brutschrank. An den Wänden der runden Brutgefäße sieht man weiße längliche Larven und adulte Fliegen sitzen. Die weiße Masse am Boden ist ein spezielles Zuchtmedium, in das die adulten Fliegen Eier legen und in dem die Fliegenlarven fressen bis diese dann zur Verpuppung aus dem Futter heraus nach oben kriechen.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Fritz-Olaf Lehmann
Universität Rostock
Institut für Biowissenschaften
Tel.: +49 381 498-6300
E-Mail: fritz.lehmann@uni-rostock.de
https://www.tierphysiologie.uni-rostock.de/

http://www.uni-rostock.de

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