Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen
In der Schweiz arbeiten in vielen Berufen fast ausschliesslich Frauen oder fast ausschliesslich Männer. Die Geschlechtersegregation ist stärker ausgeprägt als im übrigen Europa. Wer einen geschlechtsuntypischen Beruf wählt, zeichnet sich oft durch überdurchschnittliche schulische Kompetenzen und viel Selbstbewusstsein aus. Zu diesen Schlüssen kommt eine Studie des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60).
Die Studienresultate sowie der Text dieser Medienmitteilung stehen auf der Website des NFP 60 (www.nfp.60 > projekte) bzw. des Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung (www.snf.ch).
Die Geschlechtersegregation im Beruf ist in der Schweiz im Vergleich mit anderen europäischen Ländern stark ausgeprägt, das heisst: Frauen arbeiten überwiegend in frauentypischen, Männer in männertypischen Berufen. Die Geschlechtersegregation ist aus mehreren Gründen problematisch: Frauentypische Berufe – z.B. Pflege oder Kindererziehung – haben einen geringen gesellschaftlichen Status, bieten kaum Aufstiegschancen und werden niedrig entlöhnt. Ferner geht der Gesellschaft und der Wirtschaft ein grosses Potenzial verloren, wenn junge Erwachsene ausschliesslich geschlechtstypische Berufe erlernen und damit ihre Fähigkeiten nicht voll entfalten. Umgekehrt würden stark vergeschlechtlichte Berufsfelder wie etwa der Ingenieur- oder Pflegeberuf, die unter einem Fachkräftemangel leiden, von einer Aufweichung der Segregation profitieren.
Ausbildungs- und Berufsverläufe von 6000 Jugendlichen
Warum aber ist die Geschlechtersegregation so stark ausgeprägt – und was lässt sich dagegen tun? Diesen Fra-gen sind Andrea Maihofer, Manfred Max Bergman und ihr Team vom Zentrum Gender Studies und vom Seminar für Soziologie an der Universität Basel für das Nationale Forschungsprogramm «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60) nachgegangen. Sie haben für ihre repräsentative Längsschnittstudie die Ausbildungs- und Berufsverläufe von 6000 jungen Erwachsenen über einen Zeitraum von zehn Jahren untersucht.
Die Befragten sind heute um die 25 Jahre alt. Mit 33 von ihnen haben sie vertiefte berufsbiografische Interviews geführt. Als männer- bzw. frauentypische Berufe wurden Beschäftigungen mit mindestens einem Anteil von 70 Prozent des betreffenden Geschlechts definiert; die restlichen Berufe gelten als geschlechtsneutral.
Auch unter den heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind geschlechtsuntypische Ausbildungen und Berufstätigkeiten selten. Die Geschlechtersegregation ist also kein Generationenproblem, das sich in den nächsten Jahren von selbst lösen würde. Von den 6000 Befragten haben sich lediglich 22 Frauen und 20 Männer als 16jährige einen geschlechtsuntypischen Beruf gewünscht und üben zehn Jahre später auch einen solchen aus. Das sind weniger als ein Prozent. Einige von ihnen sind zudem in ihrem Berufsfeld in einer geschlechtstypischen Nische tätig.
Frühe Berufswahl
Es gibt mehrere Gründe für die hohe Geschlechtersegregation. Die Jugendlichen müssen sich im Ausbildungssystem bereits mit rund 15 Jahren für einen Beruf entscheiden, früher als in anderen Ländern. In diesem Alter orientieren sie sich meist stark an Geschlechterstereotypen. Die meisten Jugendlichen kommen daher gar nie auf die Idee, einen geschlechtsuntypischen Beruf zu ergreifen. Zudem verlassen sie den einmal eingeschlagenen geschlechtstypischen Ausbildungsweg kaum, weil ein Wechsel im Berufsbildungssystem schwierig ist.
Ferner wirken sich Familienpläne traditionalisierend auf die Berufsfindung aus: Junge Frauen mit Kinderwunsch wählen häufiger frauentypische Berufe, die ihnen Kinderpausen und Teilzeitarbeit ermöglichen. Männer mit Kinderwunsch dagegen suchen sich eher einen Beruf aus, der ihnen einen guten Verdienst und Aufstiegsmöglichkeiten bietet, damit sie die Hauptverantwortung für das Einkommen der Familie über-nehmen können. Diese frühen Weichenstellungen erschweren es, Familienarrangements jenseits des Ernährer-Hausfrau-Modells zu verwirklichen.
Zugang zu geschlechtsuntypischen Berufen erleichtern
Diejenigen jungen Frauen und Männer, die einen geschlechtsuntypischen Beruf ausüben – Frauen also, die als Automechanikerinnen, und Männer, die als Pflegefachmänner tätig sind –, zeichnen sich durch höhere Lese- und Mathematikkompetenzen aus als ihre Kolleginnen und Kollegen, die geschlechtstypische Berufe ausüben. Zudem besitzen ihre Eltern höhere Bildungsabschlüsse. Dies deuten die Forschenden als Hinweis, dass männliche und weibliche Jugendliche, die einen geschlechtsuntypischen Beruf erlernen und in ihm verbleiben, besondere Ressourcen und viel Selbstbewusstsein brauchen, um die bestehenden Widerstände zu überwinden. Allerdings lohnt es sich für junge Frauen und Männer nicht gleichermassen, einen geschlechtsuntypischen Beruf zu ergreifen. Auch junge Männer erreichen in frauentypischen Berufen einen relativ tiefen Berufsstatus; umgekehrt erfahren Frauen durch einen Wechsel in männertypische Berufe oft einen Statusgewinn.
Was lässt sich tun, damit Jugendliche leichter Zugang zu geschlechtsuntypischen Berufen finden? Wichtig seien positive Rückmeldungen durch das familiäre Umfeld sowie durch Lehrpersonen, Lehrmeisterinnen und Berufsbildner, wenn Jugendliche geschlechtsuntypische Berufswünsche äusserten und verwirklichen wollten, sagen die Forschenden. Zudem sollten Schule und Berufsberatung vermehrt geschlechtsuntypische Berufe und Familienarrangements jenseits des Ernährer-Hausfrau-Modells thematisieren. Bei den frauentypischen Berufen müssten Saläre und Weiterbildungsmöglichkeiten verbessert werden, bei den männertypischen Berufen brauche es vermehrt flexible Arbeitspensen und Arbeitszeiten.
Kontakt
Prof. Dr. Andrea Maihofer
Zentrum Gender Studies
Universität Basel
061 271 35 59
andrea.maihofer@unibas.ch
Dr. Karin Schwiter
Zentrum Gender Studies
Universität Basel
076 442 32 76
karin.schwiter@unibas.ch
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