Knapp 68 Prozent der Arbeitslosen in Deutschland von Armut bedroht
Die Zahl der Erwerbstätigen dürfte in diesem Jahr einen neuen Rekordstand erreichen. Doch die Nachrichten vom Arbeitsmarkt seien nicht uneingeschränkt positiv, betont WSI-Forscher Dr. Eric Seils: „Der Anteil der Armen in der deutschen Erwerbsbevölkerung ist heute deutlich höher als 2004. Das gilt sowohl für Beschäftigte als auch für Arbeitslose.“
Der Sozialwissenschaftler hat die neuesten verfügbaren Zahlen aus der EU-weiten Erhebung von Armutsdaten ausgewertet. 2010 waren laut EU-Statistikbehörde Eurostat in Deutschland 7,7 Prozent der Erwerbstätigen von Armut bedroht. Das heißt, ihnen standen weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung – das ist die gängige wissenschaftliche Schwelle der „Armutsgefährdung“. In Deutschland liegt sie für einen Alleinstehenden bei 952 Euro im Monat.
Von 2009 auf 2010 erhöhte sich die Quote der „Working Poor“ um 0,6 Prozentpunkte. Im Vergleich zu 2004 ist sie um 2,9 Prozentpunkte oder fast 38 Prozent gestiegen. Im Durchschnitt der EU lag der Anteil der armutsgefährdeten Erwerbstätigen laut Eurostat 2010 bei 8,9 Prozent, das ist der gleiche Wert wie 2004. Im Mittel des Euroraums nahm die Quote seit 2004 um 1,4 Prozentpunkte zu. Der überdurchschnittliche Anstieg führte dazu, dass Deutschland bei der Arbeitsarmut mittlerweile im europäischen Mittelfeld liegt. Die niedrigsten Quoten wiesen 2010 Finnland, Belgien und die Tschechische Republik mit rund vier Prozent auf. Die höchsten Anteile verzeichneten Rumänien (18,7 Prozent), Spanien (12,2 %) und Griechenland (11,9%)
Die Quote der von Armut bedrohten Arbeitslosen sank in Deutschland von 2009 auf 2010 um gut zwei Prozentpunkte auf 67,7 Prozent (siehe Grafik; Link unten). Damit blieb sie aber weiterhin auf dem mit Abstand höchsten Niveau in der EU, wo der Durchschnitt bei rund 46 Prozent liegt. Zudem ist der Anteil der armutsgefährdeten Arbeitslosen in der Bundesrepublik immer noch um 26 Prozentpunkte höher als 2004.
Dies habe mit der vierten Hartz-Reform zu tun, erklärt WSI-Forscher Seils. Langzeitarbeitslose seien seit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe schlecht gegen Armut abgesichert. Nach einem Jahr – einer im Vergleich zu etlichen Nachbarländern relativ kurzen Frist – erhalten Arbeitslose kein einkommensabhängiges Arbeitslosengeld I (ALG I) mehr, sondern nur noch das niedrigere ALG II als Grundsicherung. Und das reiche oft nicht mehr, um das Haushaltseinkommen über der Armutsgrenze zu halten. Da die Langzeitarbeitslosen vom Beschäftigungsaufbau der vergangenen Jahre am wenigsten profitiert haben, fielen sie statistisch zunehmend ins Gewicht, so Seils: „Der Anstieg des Armutsrisikos unter Arbeitslosen stellt gewissermaßen die Schattenseite der in den vergangenen Jahren gesunkenen Arbeitslosigkeit dar.“
Außerdem sieht der Sozialwissenschaftler einen deutlichen Zusammenhang zwischen Arbeits- und Arbeitslosenarmut: „Wer bereits in Beschäftigung arm war, wird es als Arbeitsloser erst recht sein.“ Sei es, weil das Einkommen so niedrig war, dass schon das ALG I unter der Grundsicherungsgrenze liegt. Oder weil ein prekär Beschäftigter mit unterbrochenem Erwerbsverlauf nicht lange genug am Stück beschäftigt war, um überhaupt einen Anspruch auf die Versicherungsleistung zu haben.
Die Hälfte aller deutschen Arbeitslosen hat laut Seils 2010 sogar weniger als 793 Euro im Monat zur Verfügung gehabt (siehe Interview mit dem Forscher; Link unten). Das entspricht 50 Prozent des mittleren nationalen Einkommens und markiert die Schwelle, unter der Menschen von der Industrieländerorganisation OECD als „arm“ bezeichnet werden. Auch dieser Wert ist nach Seils´ Auswertung der höchste in der EU. Gut 19 Prozent der Menschen ohne Job sind in der Bundesrepublik sogar von „strenger Armut“ (weniger als 40 Prozent des mittleren Einkommens) betroffen. Bei diesem statistischen Merkmal rangiert die Bundesrepublik im Mittelfeld der EU-Staaten. Überdurchschnittlich hoch ist die Quote der Arbeitslosen in „strenger Armut“ in den baltischen Staaten, Rumänien und Bulgarien, aber auch in Italien, Griechenland und Spanien. Besonders niedrig ist die Quote von Arbeitslosen in „strenger Armut“ in Dänemark und den Niederlanden, auch Belgien und Frankreich weisen relativ niedrige Werte aus.
Weitere Informationen:
http://www.boeckler.de/14_42746.htm
– Die Pressemitteilung mit Ansprechpartnern
http://www.boeckler.de/16034_42743.htm
– Interview mit dem Forscher Dr. Eric Seils
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