Wohnungslos = psychisch krank?
Welche Menschen nehmen das Hilfenetz der Wohnungslosenhilfe in Anspruch? Bietet die Wohnungslosenhilfe eine bedarfsgerechte Versorgung für diese Menschen? Führt die Struktur der psychiatrischen Regelversorgung möglicherweise dazu, dass bestimmte Menschen „durch das Netz fallen“?
Die SEEWOLF-Studie der Klinik für Psychiatrie am Klinikum rechts der Isar der TU München hat sich mit diesen Fragen beschäftigt. Eines der Ergebnisse: Über zwei Drittel der untersuchten wohnungslosen Menschen leiden unter psychischen Erkrankungen, aber nur ein Drittel erhält eine entsprechende Versorgung.
In Deutschland haben geschätzte 300.000 Menschen keine eigene Wohnung. Davon leben rund 25.000 Menschen ohne Unterkunft auf der Straße, mit steigender Tendenz: Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe prognostiziert einen Anstieg der Wohnungslosenzahlen bis zum Jahr 2016 auf 380.000 Menschen.
In München ist die Situation besonders angespannt – denn bezahlbare Wohnungen sind hier rar. Ende 2013 wohnten rund 8.000 Personen in Notunterkünften, Pensionen, Wohnheimen und ähnlichen Einrichtungen. Hinzu kamen rund 550 Personen, die ohne Obdach auf der Straße lebten.
Aktuell verschärft sich die Wohnungssituation in München unter anderem durch die wachsende Zuwanderung aus osteuropäischen Staaten weiter – die Auswirkungen auf das System der Wohnungslosenhilfe sind noch nicht absehbar.
Aktuelle Daten erforderlich
Seit den 70er Jahren wurde in Deutschland im Rahmen einer „Enthospitalisierung“ die Zahl der stationären Psychiatriebetten deutlich reduziert. Viele der chronisch psychisch Kranken konnten jedoch in den Gemeinden nicht Fuß fassen und gerieten nach und nach in die Wohnungslosigkeit.
In den 90er Jahren stellte in München die sogenannte Fichter-Studie fest, dass psychische Erkrankungen bei wohnungslosen Menschen gehäuft vorkommen. In der Folge begann man, die Versorgung für psychisch kranke Wohnungslose zu verbessern. Viele Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe kooperieren heute mit psychiatrischen Einrichtungen, zudem gibt es spezifische Wohnangebote für psychisch kranke wohnungslose Menschen.
Für die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe stellte sich nun die Frage, ob sie mit der stärkeren Ausrichtung ihres Angebots auf psychisch kranke Menschen auf dem richtigen Weg sind und ob zusätzliche Maßnahmen dazu beitragen könnten, frühzeitig zu verhindern, dass Menschen wohnungslos werden.
Auf Initiative des Katholischen Männerfürsorgevereins München und der Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe München und Oberbayern wurde das Team von Prof. Josef Bäuml von der Klinik für Psychiatrie des Klinikums rechts der Isar mit einer entsprechenden Studie beauftragt. Unterstützt wurde das Forschungsprojekt vom Bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Integration, vom Bezirk Oberbayern und von der Landeshauptstadt München.
Umfassende Herangehensweise
Die SEEWOLF-Studie (Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe im Großraum München) untersuchte seit 2011 Häufigkeit, Art und Ausmaß psychischer und körperlicher Erkrankungen sowie die kognitive Leistungsfähigkeit bei Münchner Wohnungslosen. Erfasst wurden auch deren Lebensverläufe sowie die Vorgeschichte der jeweiligen Erkrankungen.
An der Studie nahmen 232 zufällig ausgewählte Personen teil, die in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe sowie in Notunterkünften und Pensionen lebten. Damit ist SEEWOLF die bisher größte Wohnungslosenstudie in Deutschland. Die Geschlechterverteilung wurde mit 80 Prozent Männern und 20 Prozent Frauen an das bestehende Geschlechterverhältnis in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe angeglichen. Alle Studienteilnehmer wurden an jeweils drei mehrstündigen Terminen umfassend untersucht: Die Wissenschaftler führten je ein allgemeines Interview und untersuchten sowohl die körperliche und die psychische Verfassung als auch die kognitive Leistungsfähigkeit ausführlich.
Die wichtigsten Studienergebnisse
Die Studienergebnisse zeigen klar: Von Wohnungslosigkeit betroffen sind in erster Linie die Menschen, die aus verschiedenen Gründen schon vorher besonders labil und verwundbar waren. So haben viele von ihnen eine eher komplizierte Grundpersönlichkeit: 55 Prozent leiden laut SKID-II, einem international anerkannten Untersuchungsinstrument, unter Persönlichkeitsstörungen. In den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe untergebrachte Menschen zeigen zudem im Mittel eine eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit; ihr mittlerer IQ (Intelligenzquotient) liegt bei 85 (Durchschnitt ist 100). Und nicht zuletzt haben sie ein besonders hohes Erkrankungsrisiko für psychische Erkrankungen: Von den untersuchten Personen litten rund zwei Drittel unter psychischen Krankheiten, nicht selten sogar unter mehreren gleichzeitig. Die Wissenschaftler diagnostizierten bei rund 14 Prozent der Untersuchten schizophrene Erkrankungen, der Durchschnittswert in der Bevölkerung liegt bei einem Prozent. Bei rund 40 Prozent fanden sie eine Depression und bei rund 20 Prozent Angsterkrankungen. Zudem leiden rund 80 Prozent unter Suchterkrankungen, wobei Alkohol nicht selten mit der Absicht getrunken wird, mit den Auswirkungen der psychischen Erkrankungen besser zurechtzukommen. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die Gesamtrate der psychischen Erkrankungen von Wohnungslosen diese Zahlen sogar noch übertreffen könnte: Denn gerade diejenigen mit besonders ausgeprägten psychischen Schwierigkeiten lehnten eine Studienteilnahme häufig ab.
Eine adäquate Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen erhält nur ein Teil der Betroffenen. Rund 30 Prozent gaben an, Psychopharmaka einzunehmen, was angesichts der hohen Komorbidität für eine deutliche Unterbehandlung spricht. Im Gegensatz zur psychischen Situation war die körperliche Verfassung der Studienteilnehmer in der Regel recht gut; dies spricht für eine gute Grundversorgung in den jeweiligen Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe.
Welche Konsequenzen sind erforderlich?
Aus Sicht der Wissenschaftler und der Initiatoren der Studie sind aus den Studienergebnissen vor allem zwei Konsequenzen zu ziehen: Zum einen sollte die psychiatrische Betreuung der Menschen in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe weiter verbessert werden. Hierzu gehört sowohl ein weiterer Ausbau der Kooperation mit psychiatrischen Institutionen als auch eine bessere Ausstattung der Einrichtungen mit Fachkräften aus dem Bereich der Psychiatrie.
Zum anderen sollte der Tatsache Rechnung getragen werden, dass vor allem viele psychisch schwer Kranke durch das Netz der sozialen Hilfen fallen und in der Wohnungslosigkeit landen. Für manche von ihnen kann eine rasche Rehabilitation nicht das Ziel sein. Hilfreich wäre hingegen die Möglichkeit einer langfristigen Betreuung. Dafür müssten Wohnformen eingerichtet werden, in denen nicht die Therapie mit dem Ziel der zeitnahen Heilung im Vordergrund steht, sondern die langfristige Fürsorge und Unterstützung.
Möglicherweise braucht ein Teil der psychisch kranken Menschen einen Schutzraum ohne forcierte Therapieanforderungen im Sinne eines vorübergehenden „Time-outs“. Damit daraus tatsächlich eine längerfristig sich positiv auswirkende „Sabbat“-Phase werden kann, bedarf es aber einer professionellen Begleitung im Hintergrund, damit neben der materiellen Grundversorgung auch die psychischen Bedürfnisse dieser vorübergehend oft im wahrsten Sinne des Wortes entwurzelten Menschen im Auge behalten werden. Für diese Art der fürsorglichen Begleitung gibt es noch kein eindeutig definiertes Versorgungskonzept.
Hierüber die unterschiedlichen Berufsgruppen mit den zuständigen Gesundheits- und Sozialpolitikern in einen konstruktiven Dialog zu bringen, ist eines der Hauptanliegen der am 24. Juli 2014 im Klinikum rechts der Isar stattfindenden Tagung „Wohnungslosenhilfe – ‚Psychiatrie-light‘ oder bedarfsgerechte Versorgung von Menschen in besonderen Lebenslagen?“.
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