Nanozwiebeln bringen Styrol-Synthese auf Trab
Überraschende Einblicke in den Reaktionsablauf und die Funktion des Katalysators / Entscheidende Rolle bisher unerwünschter Kohlenstoff-Ablagerungen
Dem tatsächlichen Reaktionsablauf der Styrol-Synthese – sie zählt zu den zehn bedeutendsten industriellen Chemieprozessen – sind Grundlagenforscher der von Prof. Robert Schlögl geleiteten Abteilung Anorganische Chemie des Berliner Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft auf die Spur gekommen. Aufgrund dieser Erkenntnisse setzten die Wissenschaftler zum ersten Mal überhaupt im Nano-Maßstab (= Millionstel Millimeter) strukturierte Kohlenstoff-Materialien als Katalysator ein. Damit gelang es, die Ausbeute an Styrol um mehr als 15 Prozent zu steigern – bei gleichzeitig um 150 Grad niedrigerer Betriebstemperatur als beim herkömmlichen Prozess, mit also erheblich verringertem Energieaufwand.
Eine kürzlich in München von Wissenschaftlern gegründete Firma soll jetzt Wege für den großtechnischen Einsatz des neuen Verfahrens und für eine preisgünstige Synthese der gemeinsam mit russischen und französischen Forschungsinstituten hergestellten Nano-Kohlenstoff-Katalysatoren entwickeln.
Styrol ist ein wichtiger Grundstoff der chemischen Industrie, der Baustein („Monomer“) des weit verbreiteten Kunststoffs Polystyrol. Daraus werden viele alltägliche Gebrauchsartikel für den Haushalt wie Kleiderbügel oder Wäscheklammern, ebenso wie Gehäuse für elektronische Geräte oder für Lebensmittel geeignete Verpackungen gefertigt, aber auch – wegen des außergewöhnlichen Glanzes von Oberflächen aus reinem Polystyrol – Hüllen und Scheiben von CD („compact disc“)-Informationsträgern. Unter dem Markennamen „Styropor“ ist Polystyrol in aufgeschäumter Form außerdem als Material für Wärmedämmung oder wärmeisolierende Verpackungen bekannt.
Schätzungsweise 1 500 Anlagen in aller Welt produzieren pro Jahr ungefähr 25 Millionen Tonnen Styrol und erzielen damit rund 66 Milliarden Euro Umsatz. Das geschieht nach einem 60 Jahre alten Verfahren: durch Dehydrierung von Ethylbenzol (C8H10) zu Styrol (C8H8) mit Hilfe eines aus Kalium- und Eisenoxid bestehenden Katalysators. Dabei werden der aus Erdöl stammenden, flüssigen Ausgangssubstanz Ethylbenzol zwei Wasserstoff-Atome entzogen.
Die industrielle Produktion von Styrol erfordert einen besonders energiefressenden, „endothermen“ und damit sehr teuren Aufwand. Gemessen an dem eingesetzten Ethylbenzol ist die neunfache Menge an überhitztem, zwischen 580 und 650 Grad Celsius heißem Wasserdampf notwendig, damit die Reaktion zum Laufen kommt. Wobei der Wasserdampf nicht nur die Wärme liefert, um das Ethylbenzol auf Reaktionstemperatur zu bringen. Er unterdrückt außerdem die in der Folge einsetzende, unerwünschte Entstehung von Kohlenstoff (durch Polymerisation von Styrol). Unerwünscht deshalb, weil mit steigender Temperatur schneller als die Styrol-Ausbeute immer mehr Kohlenstoff-Nebenprodukte entstehen. Sie kleistern die Oberfläche des Kalium-Eisenoxid-Katalysators schließlich zu – sie „vergiften“ ihn, sagen die Fachleute – und machen ihn damit unwirksam.
Der Wasserdampf erfüllt dabei gemeinsam mit dem Kalium-Bestandteil (von etwa zehn Prozent) auf der Oberfläche des Katalysators die Aufgabe, die Kohlenstoff-Ablagerungen durch Vergasen wieder zu entfernen. Er sorgt somit für eine Selbstreinigung des Eisenoxid-Katalysators. Zwar zeigt die Brutto-Reaktionsgleichung, dass der Wasserdampf eigentlich gar nicht gebraucht wird. Andererseits ist jedoch ohne Wasserdampf beim herkömmlichen Prozess offenbar kein stabiler Betrieb der Styrol-Synthese möglich. Dies waren jedenfalls bisher die Vermutungen über den Ablauf der Reaktion. „Trotz enormer Entwicklungsanstrengungen konnten gravierende Nachteile wie die schwere Beherrschbarkeit der Reaktion, das Energiemanagement und die Verringerung des Wasserdampfzusatzes empirisch – durch einfaches Probieren mit Versuch and Irrtum – nicht überwunden werden“, fasst Prof. Schlögl vom Berliner Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft zusammen.
Das gilt nicht nur für die Styrol-Synthese: Zwar steuern Katalysatoren 90 Prozent aller technischen chemischen Prozesse, und ohne biologische Katalysatoren, meistens Enzyme, ist kein Leben möglich. Dennoch hat „die Katalyse – trotz einer etwa hundertjährigen Entwicklungsgeschichte und dem Vorbild der Natur – bisher nicht den Stand einer beherrschten Technologie erreicht“, macht Schlögl deutlich. „Und über die Funktion des Katalysators auf atomarer Ebene ist in den meisten Fällen gar nichts bekannt.“
Doch um die verwickelten Vorgänge zu erforschen, die bei der Katalyse ablaufen, sind, so Schlögl, „extrem anspruchsvolle Untersuchungen“ notwendig. Am einfachsten wäre es, könnte man die einzelnen Atome und Moleküle in „Echtzeit“ während der Reaktion sehen – ein Wunschtraum. Solche „Einsichten“ lässt die ungestüme „Natur“ der Katalyse nicht zu. Denn sie beschleunigt – wie im „Zeitraffer“ – nicht nur die Geschwindigkeit einer chemischen Reaktion, sondern verändert auch deren Weg.
Grundsätzlich werden bei der heterogenen Katalyse – bei der sich die flüssigen oder gasförmigen Reaktionsteilnehmer an einem festen Katalysator umsetzen – chemische Bindungen gelöst und neue geschaffen. Das geschieht ausschließlich an der Oberfläche oder präziser, an den Grenzflächen: Hier endet der regelmäßige Aufbau eines festen Körpers abrupt; den Atomen an den Rändern stehen keine Partner mehr gegenüber, viele Bindungen stehen deshalb offen.
Genau in diesem Bereich findet die Katalyse statt – sie beginnt, wenn die äußeren Atome der Grenzschicht versuchen, ihre freien Bindungen zu schließen. Weil die Oberfläche im Nahbereich elektronisch immer ungesättigt ist, werden umherschwirrende Moleküle – vorausgesetzt, sie sind „richtig“ orientiert – in die Nähe des Katalysators „gezogen“ und locker angelagert, „adsorbiert“. Doch schon in diesem schwachen Kraftfeld verformen sich die Elektronenhüllen der Atome, aus denen die adsorbierten Moleküle zusammengesetzt sind.
Bei weiterer Annäherung an die Oberfläche kommt es zu noch ausgeprägteren gegenseitigen Veränderungen der elektronischen Ladungsverteilung. Der Energiefluss zwischen Molekülen und Oberfläche verstärkt sich. Dadurch kann sich die Adsorption zur stabileren Chemisorption verfestigen. Zeitweise wandern jetzt Elektronen in den Katalysator hinein oder aus ihm heraus.
Dieser Austausch von Elektronen hat häufig dramatische Folgen: Die inneren Bindungen einzelner, „chemisorbiert“ an der Oberfläche haftender Moleküle können nun aufbrechen: Zweiatomige Gasmoleküle, wie beispielsweise Wasserstoff oder Sauerstoff, werden so in zwei Einzelatome gespalten („dissoziiert“) und sind in diesem atomaren Zustand besonders „heiß“ – sie starten oft ungewöhnliche Reaktionen, gelegentlich sogar mit exotischen, sonst nicht existenzfähigen Verbindungen. So entstehen meistens instabile, rasch weiterreagierende Übergangsprodukte, Kaskaden von manchmal gleichzeitig ablaufenden chemischen Prozessen oft in extrem schnellen, nur Pikosekunden (10-12 s) dauernden Zwischenschritten – ehe am Schluss das fertige Produkt sich von der Oberfläche löst („desorbiert“) und danach der nur in geringen Mengen eingesetzte Katalysator unverändert wieder erscheint. Er hat seine Wirkung getan und die für den Beginn der Reaktion notwendige Aktivierungsenergie entscheidend herabgesetzt: Ein neuer katalytischer Zyklus kann beginnen.
Vorgänge an der Oberfläche bestimmen also die Wirksamkeit eines Katalysators – deshalb spielt seine geometrische, mechanische und thermische Mikrostruktur, etwa die Abstände der Atome im Kristallgitter oder seine Porosität, eine wichtige Rolle. Schon bei der Adsorption und dann während der Reaktionen wird die Oberfläche des Katalysators zeitweilig immer wieder verändert. Im Allgemeinen ist jedoch nicht seine gesamte Fläche, sondern sind nur wenige, eng begrenzte Bereiche an den chemischen Umsetzungen beteiligt: Solche „aktiven Zentren“ bedecken oft nur ein Prozent der Oberfläche; Kanten, Ecken und Spitzen erweisen sich dabei als katalytisch besonders wirksam.
Den Anstrengungen der Forscher, zumindest einzelne Einblicke in die dynamisch ablaufenden, verwirrend vielfältigen Vorgänge der Katalyse zu bekommen, stellen sich von den Wissenschaftlern „Lücken“ genannte Hindernisse entgegen:
– Beim Material,
– der Temperatur und
– dem Druck.
Diese „Lücken“ kennzeichnen dabei die gravierenden Unterschiede zwischen modellhaften Experimenten und der Realität – den tatsächlichen Zuständen der Atome und Moleküle während der katalytischen Umsetzungen. Beispielsweise versuchen die Grundlagenforscher, in einkristallinen – perfekt mit genau definiertem Aufbau geordneten – Materialproben, einzelne Zwischenprodukte bei tiefer Temperatur „einzufrieren“ und somit dingfest zu machen. Andererseits ist die genaue Analyse von Oberflächen nur im Ultra-Hochvakuum, bei etwa einem Zehnbillionstel des Atmosphärendrucks möglich; unter „normalen“ Bedingungen, bei denen der Katalysator eigentlich arbeitet, würde sich seine Oberfläche innerhalb nur einer Milliardstel Sekunde vollständig mit Gasmolekülen bedecken und keinen einzigen Platz mehr für die Adsorption freilassen. Weitere Schwierigkeit: Häufig lässt sich derselbe Vorgang bei der Katalyse auf verschiedene Weise deuten.
Abertausende diffiziler Experimente waren deshalb notwendig, ehe es den Max-Planck-Wissenschaftlern in mühseliger – im wahren Wortsinn – Kleinstarbeit und dem Einsatz modernster oberflächenphysikalischer Analyse-Verfahren nach 15 Jahren gelungen ist, „das Puzzle aus den unterschiedlichsten Einzeluntersuchungen bei der Styrol-Synthese zu einem widerspruchsfreien Ablauf von Elementarschritten zusammenzufügen – einem Ablauf, der sich auf funktionales Wissen und nicht nur auf empirische Fakten stützen kann“, erläutert Schlögl. Dazu haben alle Abteilungen des Berliner Fritz-Haber-Instituts mit ihren Spezialisten für Physikalische Chemie, Festkörperphysik, Oberflächenchemie, Festkörperchemie und Chemische Reaktionstechnik Beiträge geliefert. „Die völlig unerwartete Schlussfolgerung daraus ist,“ so Schlögl, „dass die bisherigen Ergebnisse zur Aufklärung der Styrol-Synthese eine total neue Vorstellung über den Reaktionsverlauf und die Funktion des Katalysators gebracht haben. Künftig wird die energieintensive Beigabe von Wasserdampf überflüssig.“
Die wichtigste Erkenntnis aus Experimenten unter anderem in einem Modellreaktor mit 0,5 Quadratzentimetern Kontaktfläche – auch er ein experimentelles Meisterstück: Die „unerwünschten“ Kohlenstoff-Ablagerungen auf dem Kalium-Eisenoxid-Katalysator – und nur sie allein – erzeugen die „katalytisch aktive Phase“, mit der das Ethylbenzol zu Styrol umgesetzt wird. Schlögl: „Dieser Befund steht im krassen Widerspruch zur Auffassung der deaktivierenden Wirkung von Kohlenstoff. Doch hoch auflösende Aufnahmen mit dem Elektronenmikroskop belegen, dass auch der technische Katalysator im aktiven Zustand von einer dünnen Schicht aus Kohlenstoff umhüllt ist.“
Das erklärt auch die Tatsache, weshalb die industrielle Styrol-Synthese erst nach einigen Stunden zum Laufen kommt: An Modellsystemen wiesen die Max-Planck-Forscher nach, dass sich die ursprüngliche Oberfläche des Katalysators aus Kalium-Eisenoxid zunächst strukturell und chemisch massiv umwandelt. Die atomare Ordnung wird so stark verändert, dass „die Bezeichnung ‚Baufehler’ unangebracht ist und man von neuen, unbekannten Strukturen ausgehen muss“, stellt Schlögl fest. Die Oberfläche ist jetzt „enorm aufgeraut“ und von zahlreichen Defekten durchsetzt. Erst damit ist der Boden für die Styrol-Katalyse bereitet.
Zwar findet während dieser „Aktivierungsperiode“ nur ein minimaler chemischer Umsatz statt – doch der lenkt den weiteren Verlauf der nachfolgenden Reaktionen entscheidend: Das Kalium polymerisiert einen Teil des Produkts Styrol und überzieht so die Oberfläche des Katalysators mit einem dünnen Film aus Kohlenstoff – allerdings in einer besonderen, wohlgeordneten Form: als Graphit. Seine supramolekularen Baueinheiten mit gleichmäßiger Sechseck-Struktur sind exakt parallel zur Oberfläche ausgerichtet. Diese Graphitschicht ähnelt einer hauchdünnen Platte aus Bienenwachs mit Wabenmuster.
Jedoch schon nach wenigen Lagen ist es mit der Ordnung vorbei: „Ohne die dirigierende Wirkung der Oberfläche“, so Schlögl, bildet sich dann aus dem Styrol-Polymer amorpher, ungeordneter, in alle Richtungen zufällig verteilter Ruß. Der aber, auch das haben die Untersuchungen der Grundlagenforscher des Fritz-Haber-Instituts bestätigt, „vergiftet“ den Katalysator und macht ihn unwirksam. „Hier zeigt sich die Ambivalenz des Elements Kohlenstoff besonders deutlich“, erklärt Schlögl. „Wenn der Kohlenstoff hoch geordnet ist, trägt er einerseits die katalytische Aktivität, bewirkt aber andererseits auch als ungeordneter Ruß deren Vernichtung, weil er den Zugang zu den katalytisch aktiven Zentren verhindert.“
Bei ihren Reihenuntersuchungen erlebten die Max-Planck-Wissenschaftler eine weitere Überraschung: Der geordnete, „graphitische“ Kohlenstoff bleibt unter den „harten“ Bedingungen der Styrol-Synthese – immerhin 650 Grad Hitze – stabil und aktiv, sogar auch dann noch, wenn man dem Reaktionsgemisch Sauerstoff oder einen Überschuss an Wasser zusetzt. An der mangelnden thermischen Stabilität waren in der Vergangenheit alle Versuche immer wieder gescheitert, herkömmliche, als katalytisch aktiv bekannte Formationen des Kohlenstoffs zu nutzen. Überhaupt hat es der Katalysator dieser „korrekten“ Mikrostruktur der Kohlenstoff-Schicht zu verdanken, dass er bei Reaktionstemperatur überleben kann: Ohne den Graphit-Schutzfilm würde das Kalium-Eisenoxid in Sekundenschnelle durch Vergasen zersetzt – genau so wie das mit dem schlecht geordneten Ruß geschieht.
Aus diesen in Katalyse-Experimenten unter industriellen Bedingungen nachgewiesenen Ergebnissen – Schlögl: „Sie vereinen alle aus dem praktischen System bekannten Tatsachen widerspruchslos“ – folgern die Forscher: Der bisher bei der kommerziellen Styrol-Synthese eingesetzte Kalium-Eisenoxid-Katalysator wirkt als Vorläufer, als „Ko-Katalysator“. Er wird offenbar nur dazu gebraucht, um die „richtige“ Form des Kohlenstoffs herzustellen. Wobei die katalytisch wirksame Oberfläche aus graphitischem Kohlenstoff erst während der Umsetzung aus den Reaktionsteilnehmern entsteht – und deshalb auch auf anderem Weg erzeugt werden kann: beispielsweise durch gekrümmt geordneten Kohlenstoff.
Der steht den Forschern seit der Entdeckung der so genannten „Fullerene“ im Jahr 1985 zur Verfügung, nachdem es 1990 Prof. Wolfgang Krätschmer am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik gelungen war, solche ultrakleinen Kohlenstoff-Käfige auch in größeren Mengen herzustellen. Neben Graphit und Diamant, den klassischen Erscheinungsformen des reinen Kohlenstoffs, gibt es mit den Fullerenen inzwischen eine große Familie dieser neuartigen Kohlenstoff-Moleküle. Ihr gemeinsames Merkmal: Sie sind aus einer jeweils geraden Anzahl von Kohlenstoff-Atomen aufgebaut, die sich zu fünf- oder sechsgliedrigen Ringen zusammenschließen (wobei jedes Atom mit drei weiteren Kohlenstoff-Atomen abwechselnd über eine Doppel- und zwei Einfachbindungen miteinander verknüpft ist). Diese dreidimensionalen, festen, in sich geschlossenen Netzwerke sind nur Millionstel Millimeter – Nanometer – klein, 10 000fach dünner als der Durchmesser eines menschlichen Haares.
Mittlerweile lassen sich solche winzigen Gebilde aus Kohlenstoff als Nanoröhren, Nanokugeln, Nanobündel, aber auch in Form von Nanozwiebeln synthetisieren. Gleichen Nanoröhrchen mit ihrer einheitlichen, graphitischen Sechseckstruktur aufgerollten Tunneln aus Bienenwaben, ähneln Nanozwiebeln eher russischen Babuschka-Puppen: Im Kern sitzt ein Kohlenstoff-Fulleren, um den sich – wie die Schalen einer Zwiebel – weitere Kohlenstoff-Kugeln gruppieren.
Diese ineinander verschachtelten Nanostrukturen haben nicht nur für Katalyse-Forscher faszinierende Eigenschaften: Wegen ihrer Krümmung stehen sie unter mechanischer Spannung und sind deshalb chemisch besonders reaktiv. Außerdem bieten sie im Vergleich zum ebenen – planaren – Graphit eine wesentlich größere Zahl von Plätzen zum „Andocken“ anderer Atome oder Molekülfragmente an die Kohlenstoff-Atome und damit viele Möglichkeiten, chemische Bindungen zu knüpfen. Zudem können die Kohlenstoff-Kugeln – in einem umkehrbaren Prozess – sowohl Elektronen aufnehmen und so elektrisch negative Kohlenstoff-Ionen erzeugen, ebenso aber auch Elektronen abgeben. Schon allein durch das Einstrahlen von Licht sind Kohlenstoff-Zwiebeln in der Lage, beispielsweise so genannten Singlett-Sauerstoff zu produzieren – eine energetisch angeregte und extrem reaktive Form dieses Gases. Genau das sind die „heißen Antreiber“, die katalytische Umsetzungen in Schwung bringen.
Bei ihren Untersuchungen fanden die Grundlagenforscher des Fritz-Haber-Instituts heraus: „Die Kohlenstoff-Nanozwiebelchen oder Nanoröhrchen erzielen mit Styrol-Ausbeuten von mehr als 60 Prozent nicht nur deutlich bessere Ergebnisse als die heute angewendeten Kalium-Eisenoxid-Katalysatoren, sie sind auch allen anderen Kohlenstoff-Modifikationen überlegen“, bestätigt Schlögl. „Dieser völlig neue Katalysator erlaubt die Führung der Reaktion unter Zusatz von Luft anstelle von Wasser.“
Damit eröffnen die Nanozwiebeln oder Nanoröhrchen einen völlig neuen Reaktionsweg für die Styrol-Synthese. Die zwei aus der Ausgangssubstanz Ethylbenzol zu entfernenden Wasserstoff-Atome können jetzt (mit Hilfe des Sauerstoffs aus der Luft) in Form von Wasser abgeschieden werden. Diese „Oxidehydrierung“ verläuft „exotherm“, es wird also Wärme freigesetzt. „Dadurch kann der wegen thermodynamischer Gesetzmäßigkeiten begrenzte Umsatz bei der herkömmlichen Styrol-Synthese ebenso überwunden werden wie die energieintensive Beigabe von Wasserdampf überflüssig wird“, versichert Schlögl. „Es konnte gezeigt werden, dass etwa 60 Prozent Ausbeute an Styrol auf einem Temperaturniveau von 150 Grad unterhalb der gegenwärtigen Praxis ohne Einbußen an Selektivität – etwa aufgrund von Verlusten durch die Verbrennung von Ethylbenzol zu Kohlendioxid – über eine Laufzeit von 800 Stunden erzielbar ist.“
Das ist vor allem der thermischen Stabilität der Nanozwiebeln oder Nanoröhrchen zu verdanken, wie die Max-Planck-Forscher bei ihren Modell-Experimenten nachgewiesen haben. Beim Katalyseprozess reagiert aktiver Sauerstoff offenbar zeitweise an der Oberfläche des Nano-Kohlenstoffs und löst damit nichtgraphitische, nichtkatalytische Kohlenstoffstrukturen allmählich auf. Schlögl: „Sauerstoffzentren an den Stufenkanten der stabilen, graphitischen Schichten scheinen jedoch die eigentlich aktiven Zentren des Katalysators zu sein.“
Eine weitere Hürde haben die Wissenschaftler mittlerweile überwunden. Die Herstellung von Kohlenstoff-Nanostrukturen, wie zum Beispiel Nanozwiebeln, war bisher nur in kleinsten Mengen aus feinstverteiltem Diamantpulver möglich und dementsprechend kostspielig. Inzwischen sind zumindest „die Grundzüge eines preisgünstigen Verfahrens bekannt, das den Weg zu großen Mengen von Nano-Kohlenstoffen mit hervorragenden katalytischen Eigenschaften ebnet“, sagt Schlögl. „Damit sind die Grundlagen gelegt, einen neuen Prozess für die Styrol-Synthese zu entwickeln, der als Vorteile einfachere und kleinere Reaktoren sowie eine vereinfachte Lösung der Probleme des Energietransports umfasst: Jetzt beginnt der Übergang von der Grundlagenforschung zur technischen Anwendung.“
Die noch ausstehenden „erheblichen Aufgaben“ soll die in München von Prof. Thomas Bein vom Center for Nanoscience der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) im Winter 2001 gegründete Entwicklungsfirma NanoScape AG lösen. Ihr wird das Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft sein gesamtes Know-how und die Rechte an Patenten über den Katalysator sowie ein weiteres Schutzrecht zur Herstellung von besonderen nanostrukturierten Kohlenstoffen zur Verfügung stellen. Außerdem wird das Fritz-Haber-Institut die Entwicklungsfirma mit oberflächenphysikalischen Messungen bei der Optimierung der neuen nanostrukturierten Kohlenstoff-Katalysatoren mit dem Ziel unterstützen, eine neue technische Styrol-Synthese zu entwickeln und weitere, von Nano-Kohlenstoffen gesteuerte Katalyse-Verfahren zu erforschen. Die insgesamt sechs Mitarbeiter der Firma mit langjährigen, internationalen Erfahrungen bei der Entwicklung, Charakterisierung und Erprobung von Katalysatoren haben inzwischen eigene Büro- und Laborräume in München bezogen. Der Vertrag der Garching Innovation GmbH, der Patentverwertungsstelle der Max-Planck-Gesellschaft, mit der NanoScape AG ist jetzt unterschriftsreif.
Auf der basischen Oxidoberfläche wird allerdings auch ein Teil des Styrols polymerisiert und weiter dehydriert, sodass schließlich graphitische Strukturen entstehen (durch kurze schwarze Striche gekennzeichnet). Die Grundlagenforscher des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft haben jetzt nachgewiesen, dass diese geordneten, graphitischen Ablagerungen des Kohlenstoffs auf der Oberfläche als die eigentlich katalytisch aktive Zone bei der Styrol-Synthese wirksam sind.
Schlechter kristallisierter Kohlenstoff, so genannter soft coke oder Ruß, der katalytisch inaktiv ist und den Katalysator schnell „vergiften“ würde, wird von Wasserdampf zersetzt (H2O -> CO2 + H2). Dadurch wird die katalytisch aktive Graphitoberfläche stets gereinigt und – weil der Wasserdampf auch immer einen Teil der KFeO2-Oberfläche „freiputzt“ – können sich kontinuierlich neue Graphitschichten bilden. Diese Selbstreinigungsprozesse schützen den Katalysator demnach nicht nur vor dem „Vergiften“, sondern schaffen auch die Flächen, auf denen der tatsächlich wirksame Katalysator – exakt geordneter Kohlenstoff – ständig neu entstehen kann. Aus diesen Gründen bleibt der bei der kommerziellen Styrol-Synthese verwendete Katalysator jahrelang aktiv.
Die Max-Planck-Wissenschaftler haben außerdem den weiteren Ablauf des Geschehens enträtselt. An den geordneten, graphitischen Kohlenstoff-Oberflächen spaltet sich molekularer Sauerstoff (O2) zu Sauerstoff-Atomen (O). Diese extrem reaktive Form des Gases wandert zu den Stufenkanten der Kohlenstoff-Oberfläche: Das sind offenbar die eigentlich aktiven Zentren des Katalysators, an denen sich die Moleküle des Ethylbenzols anlagern und zu Styrol umgesetzt werden.
Weil der Sauerstoff entweder aus dem Wasserdampf stammt (H2O -> H2 + O über „W“) oder aber – auf einem neuen Weg der Reaktion – auch aus der Luft aktiviert werden kann, ist die Styrol-Synthese künftig ohne den energieintensiven Zusatz von Wasserdampf möglich. Die aus der Ausgangssubstanz Ethylbenzol zu entfernenden zwei Wasserstoff-Atome können bei dieser Oxidehydrierung in Form von Wasser abgeschieden werden. Da dieser Prozess „exotherm“ verläuft, also Wärme freigesetzt wird, kann so die Styrol-Synthese entscheidend verbessert werden.
Weitere Informationen erhalten Sie von:
Prof. Robert Schlögl
Fritz-Haber-Institut der MPG
Faradayweg 4-6, 14195 Berlin
Tel.: 0 30 / 84 13 – 44 00
Fax: 0 30 / 84 13 – 44 01
E-Mail: schloegl@fhi-berlin.mpg.de
Dr. Gerhard Mestl
NanoScape AG
Frankfurter Ring 193 A, 80807 München
Tel.: 0 89 / 21 80 – 76 08
Fax: 0 89 / 21 80 – 76 22
E-Mail: gerhard.mestl@nanoscape.de
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