Entgleisung im Dienste der Wissenschaft

Die Tonnen schweren Güterwagen beschleunigen auf 50 Stundenkilometer. 80 Tonnen bringt ein mit Flüssigkeit gefüllter Kesselwagen auf die Waage. Plötzlich ein Ruck. Das Drehgestell eines Wagens scheint aus den Schienen gesprungen zu sein. Dann quietscht Metall auf Metall. Der Zug wird abgebremst und kommt innerhalb von zehn Sekunden abrupt nach 122 Metern zum Stehen. Im vollständig ruinierten Gleis. Zufriedene Gesichter ringsum. Ein sehr seltener Versuch ist gelungen: Ein Güterzug entgleiste kontrolliert.

„Etwas Vergleichbares gibt es weltweit vielleicht alle zehn Jahre“, sagt Prof. Dr.-Ing. Markus Hecht, Leiter des Fachgebietes Schienenfahrzeuge am Institut für Land- und Seeverkehr der TU Berlin. Im Auftrag der Oerlikon-Knorr Eisenbahntechnik AG, einer Tochter der Knorr-Bremse AG, musste der Waggon von der Schiene – die Bremsenhersteller wollten einen Entgleisungsdetektor testen, den „EDT 101“.

„Im Güterverkehr ist es ein Problem, dass der Zugführer nicht bemerkt, wenn ihm weit hinten ein Waggon aus den Schienen springt“, erläutert Professor Hecht die Relevanz eines solchen Detektors. Entgleisungen kommen zwar im Güterverkehr sehr selten vor: Im gesamten Jahr 2005 wurden 31 Unfälle mit Austritt von Gefahrengut bei knapp 9000 Güterzügen pro Tag in Europa gezählt. Wenn jedoch bei einem Gefahrentransport ein solches Unglück passiert, hat es immer verheerende Auswirkungen. Am 8. März 1994 entgleisten in Zürich-Affoltern fünf Zisternenwagen eines Benzintransportes und prallten ungebremst an einen Betonmast. Benzin trat aus – ein verheerender Großbrand war die Folge. Die Schweizerische Bundesbahn handelte: Entgleisungsdetektoren sind für schweizerische Gefahrentransporte seitdem Pflicht. Sie lösen selbsttätig eine Notbremsung aus, sobald ein Drehgestell nicht mehr auf den Schienen läuft. Im November 2007 hat der zuständige Fachausschuss auf europäischer Ebene beschlossen, dass ab 2011 für bestimmte Gefahrguttransporte Detektoren in ganz Europa obligatorisch sind. Eine Grundlage dieser Entscheidung war der erfolgreiche Entgleisungsversuch in Berlin, bei dem der „EDT 101“ präzise funktionierte.

Die TU-Forscher haben unter Zeitdruck unmöglich Geglaubtes möglich gemacht. „Wir mussten innerhalb von wenigen Wochen eine neue Methode, Zugkraft, Kesselwagen und ein geeignetes Gleis finden“, beschreibt Dipl.-Ing. Doris Luther das Arbeitspensum des Teams. Vom Eisenbahnbundesamt hatten die TU-Spezialisten die Auflage bekommen, den Zug möglichst sanft entgleisen zu lassen. „Wir konnten also keine Gleissperre einsetzen, wie man sie von Rangiergleisen her kennt“, beschreibt sie das Problem. In Kooperation mit einer Gleisbaufirma und Kollegen, die bereits die Tragfähigkeit der verwendeten Schienen anhand einer Rechnersimulation bestätigt hatten, erdachte Doris Luther eine neue Herangehensweise. „Wir haben auf einer Länge von 200 Metern ein komplett neues Gleis auf ein bestehendes gebaut“, berichtet die Ingenieurin. Das parallel verlaufende Hilfsgleis führte ins Schotterbett und brachte den Zug vom Gleis. Geeignete Kesselwagen fanden sich – bereit zum Verschrotten – in Polen. „Die mussten wieder verkehrstüchtig hergerichtet werden, damit wir sie über die Schiene transportieren konnten.“ Auf der Suche nach einem geeigneten Versuchsgleis war dann geduldiges Telefonieren mit der Netz AG der Deutschen Bahn gefragt. Endlich war alles klar: Ein Gleis in Oberschöneweide war gefunden. Weitere drei Tage dauerte die Montage der Messtechnik.

Und dann „produzierte“ das Team innerhalb von zwei Tagen für geschätzte 250.000 Euro eine Menge Schrott im Dienst der Wissenschaft und der Sicherheit: Die Kesselwagen wurden mit und ohne Last von der Schiene ins Schotterbett befördert, Kesselwagen und Gleis waren danach zerstört. Nicht mit Gold aufzuwiegen mag die Erkenntnis sein, dass die getesteten Detektoren in Bruchteilen von Sekunden die Entgleisung eines Drehgestells erkennen und eine Notbremsung auslösen – bevor gleich mehrere Wagen entgleisen und kippen, bevor gefährliche Stoffe in die Umwelt gelangen. Oder sich gar Brandkatastrophen ereignen und Schwerverletzte zu beklagen sind, wie damals in der Schweiz.

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern: Dipl.-Ing. Doris Luther, Fachgebiet Schienenfahrzeuge, TU Berlin, Tel.: 030/314-79807, Fax: -22529, E-Mail: Doris.Luther@tu-berlin.de

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