RUB-Verkehrsforschung: Neue Methode misst Blechlawinen
Staus sind faszinierend. Manchmal steht der gestresste Autofahrer stundenlang, ohne das Gaspedal auch nur zu berühren. Und plötzlich, binnen weniger Minuten löst sich der Stau scheinbar wie von Zauberhand auf. Einige Ursachen für Stillstand auf der Autobahn sind klar erkennbar, andere weniger deutlich. Wann und wie entsteht ein Stau? Hendrik Zurlinden hat in seiner Dissertation „Ganzjahresanalyse des Verkehrsflusses auf Straßen“ in der Fakultät für Bauingenieurwesen der RUB die Blechlawinen unter neuen Gesichtspunkten betrachtet. Der Ingenieur hat sich dabei von herkömmlichen Methoden der Verkehrsforschung gelöst und ein Werkzeug entwickelt, das auch Zufälle berücksichtigt. Das neue Modell geht individueller auf die jeweiligen Straßenbedingungen ein und bietet für Kosten-Nutzen-Analysen von Straßenbaumaßnahmen eine neue Datengrundlage.
Bisherige Methode zu ungenau
Ob eine Autobahn zwei oder drei Fahrstreifen bekommt, wird traditionell aufgrund des Verkehrsaufkommens in der „Rush Hour“ entschieden. Genauso funktioniert die Planung von anderen Straßen oder Kreuzungen. Die einzelnen Stunden werden relativ willkürlich herausgegriffen, der Rest des Jahres bleibt unberücksichtigt. Hendrik Zurlinden hat nun zum ersten Mal den Verkehr, schwerpunktmäßig auf Autobahnen, über ein ganzes Jahr hinweg untersucht. Im 5-Minuten-Takt schätzte er die Anzahl von Autos, LKW und Bussen, kurz die Verkehrsnachfrage. Dabei rechnete er auch zufällige Schwankungen mit ein, wie sie zum Beispiel durch das individuelle Verhalten von Fahrern entstehen. Die Daten dafür bekam Zurlinden vor allem von Dauerzählgeräten an mehreren Autobahnengpässen. Ob der Verkehr den Engpass reibungslos passieren kann, hängt vom Angebot, der so genannten Kapazität der Straße ab. Bisher wurde bei Verkehrsanalysen die Kapazität allerdings als konstante Größe angesehen. Dagegen ging Zurlinden in seinen Berechnungen davon aus, dass sich die Kapazität verändert, abhängt von Wetter, Unfällen oder liegengebliebenen Fahrzeugen. Er stellte eine zeitliche Übersicht auf, in der er das tatsächliche Verkehrsaufkommen und die Kapazität der Straße, die zum Beispiel je nach Jahreszeit unterschiedlich ist, einander gegenüber stellte. Übersteigt die Nachfrage das Angebot, entsteht ein Stau.
Kürzere Standzeiten als gedacht
Aufgrund dieser Angaben schätzte Zurlinden die Anzahl der Staustunden und Zeitverluste der Fahrer in einem Jahr. Die große Datenmenge verarbeitete Zurlinden in dem eigens entwickelten EDV-Programms „Kapasim“ (setzt sich zusammen aus Kapazität und Simulation), das er u.a. mit der Anzahl der Fahrstreifen, der Steigung, Tempolimits und dem Anteil schwerer LKW und Busse am Gesamtverkehr fütterte. Ein Ergebnis der Berechnungen: Der subjektive Eindruck über Standzeiten übersteigt häufig die Realität. Auch die gängige Fachliteratur überschätzt nicht selten die Zeitverluste der Fahrer. Beispiel A43: Zwischen der Ausfahrt Recklinghausen/Herten und dem Kreuz Bochum/Witten verliert jeder Autofahrer durchschnittlich nur wenige Minuten pro Fahrt. Allerdings kommen auch schwere Unfälle mit Vollsperrung vor, bei denen sich drei Stunden lang nur wenig bewegt auf dem Asphalt. Würde dieser Abschnitt auf drei Spuren ausgebaut, gäbe es erwartungsgemäß nur noch Verzögerungen von wenigen Sekunden pro Fahrt.
Regen verringert Kapazität
Zurlinden fand heraus, an welchen Punkten angesetzt werden kann, um das Staurisiko zu senken. Regen zum Beispiel. Gerade bei Straßen, die jeden Tag bis an die Grenze ihres Fassungsvermögens gefüllt sind, wie die A43 zwischen Recklinghausen und Bochum-Querenburg, kann schon ein Guss von oben zu Stau oder stockendem Verkehr führen. Um etwa 13 Prozentpunkte sinkt die Kapazität einer nassen Straße im Vergleich zu einer trockenen. In einigen Fällen könnte eine verbesserte Entwässerung der Strecken, beispielsweise mit so genanntem Dränasphalt, wirtschaftlich sinnvoll sein.
Verbessertes Störfallmanagement
Zurlinden bestätigt die positive Wirkung von Standstreifen, besonders bei Unfällen oder Pannen. Fehlt dieser Haltestreifen, verursachen Störfälle fast die Hälfte der Wartezeiten, sagen die vorläufigen Zahlen des Ingenieurs. Deshalb könnten auf sehr stark befahrenen Autobahnen ohne Standstreifen ständig bereitstehende Abschleppwagen ökonomisch sinnvoll sein, da sie Störstellen schneller räumen und so Zeitverluste der Fahrer senken. Eingehender untersucht hat Zurlinden auch den Nutzen wechselnder elektronischer Anzeigen über Fahrbahnen, den „Verkehrsbeeinflussungsanlagen“ (VBA). Auf Unfälle, Wetteränderungen oder Staus kann auf diesen Anzeigetafeln kurzfristig reagiert werden. Diese Anlagen sind kostspielig. Die Bundesregierung plant dafür allein im „Programm zur Verkehrsbeeinflussung auf Bundesautobahnen 2002 bis 2007“ rund 200 Millionen Euro zu investieren. Die positiven Effekte sind allerdings sehr umstritten. Mit Kapasim können in Zukunft zum ersten Mal Kosten und Nutzen solcher Anlagen aussagekräftig gegeneinander abgewogen werden. Am Lehrstuhl für Verkehrswesen (Prof. Dr.-Ing. Werner Brilon) der Fakultät für Bauingenieurwesen wird gerade die Wirkung der VBA auf der A9 bei München untersucht.
Ansätze für Praxis
Um Vorschläge für die tatsächliche Planung und Ausgestaltung von Autobahnen, Bundes- und Landstraßen zu machen, ist eine größere Datenbasis notwendig, um die Ergebnisse abzusichern. Zurlindens Methode, die weiter ausgefeilt und verbessert wird, ist nun Grundlage für die Untersuchung des Verkehrsablaufs auf Autobahnen unter Dauerhochlast, eines der aktuell laufenden Forschungsprojekte am Lehrstuhl für Verkehrswesen. Erste Ergebnisse werden noch in diesem Jahr erwartet.
Weitere Informationen
Dr.-Ing. Hendrik Zurlinden, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehrstuhls für Verkehrswesen, Fakultät für Bauingenieurwesen RUB, Tel. 0234/32-28571, E-Mail: hendrik.zurlinden@rub.de .
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