Wirtschaftsgeographischer Atlas für Thüringen vorgestellt


Aufschwung mit Nebenwirkungen

Jena (30.08.00) Die wirtschaftliche Entwicklung Thüringens verlief in den zehn Jahren seit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion 1990 insgesamt hoffnungsvoll, blieb aber deutlich hinter den euphorischen Erwartungen aus der Wendezeit zurück – dennoch ist eine insgesamt positive Entwicklung festzustellen. Das geht aus einem wirtschaftsgeographischen Atlas für den Freistaat hervor, den Wissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena heute während einer Pressekonferenz vorgestellt haben. Allerdings ist, so die Wirtschaftsgeographen, noch immer kein selbsttragender Aufschwung erreicht. Vielmehr zeigt sich seit einigen Jahren, dass die Wachstumsraten der Wirtschaft in Thüringen – wie in Ostdeutschland allgemein – hinter denen in Westdeutschland zurückbleiben. „Von einer Angleichung der Lebensverhältnisse kann in nächster Zeit keine Rede sein“, konstatiert Wirtschaftsgeograph Prof. Dr. Peter Sedlacek. „Im Gegenteil: Die Schere zwischen West und Ost klafft weiter auseinander.“

Auf 27 übersichtlichen Karten und 14 Diagrammen haben Sedlacek und seine Studentinnen Katrin Aust und Jana Fried im Rahmen eines Studienprojekts die regional sehr unterschiedlichen Entwicklungsverläufe in Thüringen zwischen 1990 und 1999 anschaulich gemacht. Die meisten Daten stammen vom Thüringer Landesamt für Statistik. Ersichtlich wird der katastrophale Zusammenbruch der alten Wirtschaftsstrukturen nach der Wende und der kontinuierliche Aufschwung seit 1993/94. Zwar stieg der Umsatz der Betriebe zwischen 1993 und 1998 um mehr als 50%, der Umsatz pro Beschäftigte sogar um 104%, das Produktivitätsniveau in Thüringen lag aber – gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt – 1998 immer noch bei nur 45,3% der westdeutschen Bundesländer. „Der technologische Aufholprozess in den Betrieben war bemerkenswert“, so Sedlacek, „aber beschäftigungspolitisch zeigt die Kurve insgesamt immer noch nach unten.“ Vor allem der Öffentliche Dienst hat in den letzten Jahren massiv Personal abgebaut, obwohl er im Vergleich zu Westdeutschland noch immer deutlich überbesetzt ist. Und der Einbruch in der Bauwirtschaft tat ein übriges.

Regional gesehen könne man vor allem in Eisenach und im Wartburgkreis halbwegs zufrieden sein, bemerkt Prof. Sedlacek. Dort liegt die Bruttowertschöpfung am höchsten und die Arbeitslosenquote mit am niedrigsten. „Das Ziel, die großbetrieblichen Strukturen im ehemaligen Industrieland Thüringen in eine flexible klein- und mittelständische Industrie- und Dienstleistungslandschaft umzubauen, ist längst noch nicht gelungen“, so der Jenaer Professor. Sorgen bereite auch der einstige Hoffnungsträger, die Tourismusbranche. Die Übernachtungszahlen überzeugen den Experten eigentlich nur am Rennsteig. Die Bettenbelegung rangiere aber global nur um die 30% – für die Hotellerie eine existenzgefährdende Quote.

Mittelbar schlagen sich diese wirtschaftlichen Trends auf die Bevölkerungsentwicklung nieder. In den süd- und westthüringischen Kreisen gibt es aufgrund der hohen Pendlerzahlen – 1998 verdienten 78.500 Thüringer ihr Brot in Bayern, Hessen und Niedersachsen – eine relative Stabilität; heikel sieht es hingegen vor allem in Ostthüringen aus. „Die Jungen gehen, und nur die Alten bleiben“, erläutert Sedlacek. „Wir fürchten, dass Thüringen auch wegen der allgemeinen demographischen Tendenzen in den nächsten 40 Jahren einen Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung verliert – und schlicht vergreist.“ Einzig der Kreis Weimarer Land hat aufgrund der Zuzüge aus Erfurt, Weimar und Jena noch Zuwächse zu verzeichnen.

Die Zukunft für die ostdeutschen Bundesländer ist laut Sedlacek also alles andere als rosig. „Die klassischen Instrumente haben wir ausgereizt. Es macht keinen Sinn von den ausgereizten Mitteln immer mehr zu verabreichen. Notwendig ist ein Umdenken“, unterstreicht der Jenaer Professor für Wirtschaftsgeographie und Regionalentwicklung. „Notwendig ist auch der bundesweite Aufschwung der Wirtschaft, von dem auch Thüringen mit profitiert.“ Dazu sei aber eine konsequente Deregulierung, nicht nur in der Steuer- und Investitionsförderpolitik, und Verwaltungsvereinfachung notwendig. „Wir haben gesehen, dass eine gute Infrastruktur und das niedrige Lohnniveau allein noch keine hinreichende Attraktivität für die Unternehmensansiedlung ausmachen.“ Vielmehr kritisiert Sedlacek das Fehlen eines raumzeitlichen Konzepts für die Wirtschaftsförderung in Thüringen und die mangelnde Konzentration auf Schwerpunktregionen. „Wir können nicht an jedem Standort High-Tech propagieren.“ Defizite sieht er vor allem im Marketing und in der Marktorientierung der Produktentwicklung.

Der 56-seitige Atlas „Die Wirtschaft in Thüringen 1990-1999“ richtet sich an Politiker und politisch interessierte Bürger und ist auch für den Schulunterricht geeignet. Er ist kostenlos zu beziehen bei der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Bergstraße 4, 99092 Erfurt.

Ansprechpartner:
Prof. Dr. Peter Sedlacek
Institut für Geographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Löbdergraben 32
07743 Jena
Tel.: 03641/948830
Fax: 03641/948832
E-Mail: p.sedlacek@geogr.uni-jena.de

Friedrich-Schiller-Universität
Referat Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Wolfgang Hirsch
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07743 Jena
Tel.: 03641/931031
Fax: 03641/931032
E-Mail: hab@sokrates.verwaltung.uni-jena.de

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30.08.2000

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